Aus dem Italienischen von Percy Eckstein und Wendla Lipsius
Die italienische Originalausgabe erschien erstmals 1947 unter dem Titel Il Conformista bei Bompiani in Mailand, die erste deutsche Ausgabe 1960 im Verlag Kurt Desch in München und Wien.
E-Book-Ausgabe 2021
© RCS Libri S.p.A., Milano / Bompiani 1947–2009
© 2009 für diese Ausgabe:
Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40/41, 10719 Berlin
Covergestaltung Julie August unter Verwendung eines Filmstills aus der Verfilmung von Bernardo Bertolucci (mit Stefania Sandrelli und Jean-Louis Trintignant) © Cineteca Archivio Fotografico, Bologna.
Reihenkonzept von Rainer Groothuis.
Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt.
Das Karnickel zeichnete Horst Rudolph.
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ISBN: 9783803143280
Auch in gedruckter Form erhältlich: 978 3 8031 2620 7
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Als Marcello noch ein Kind war, erging es ihm wie einer Elster: Alle Dinge um ihn herum bezauberten ihn. Vielleicht deshalb, weil seine Eltern – mehr aus Gleichgültigkeit denn Strenge – nie daran gedacht hatten, seinen Besitztrieb zu befriedigen. Vielleicht aber verbargen sich hinter dieser Habgier andere tiefere und dunkle Instinkte. Jedenfalls wurde er unausgesetzt von dem wilden Wunsch nach den verschiedensten Gegenständen befallen. Wertlose Dinge, wie ein Bleistift mit Gummikappe, ein illustriertes Buch, eine Schleuder, ein Lineal, ein tragbares Tintenfaß aus Ebanit, erweckten eine intensive, unvernünftige Sehnsucht in ihm. Sobald ihm das begehrte Objekt dann gehörte, erfüllte ihn ein jähes, verzaubertes, maßloses Vergnügen.
Marcello hatte daheim ein Zimmer ganz für sich allein, in dem er schlief und lernte. Alle Dinge, die auf seinem Tisch lagen oder in den Schubfächern eingeschlossen waren, besaßen für ihn den Zauber von heiligen oder geweihten Gegenständen – je nachdem, ob er schon vor längerem oder erst vor kurzem in ihren Besitz gelangt war. Sie glichen also nicht einfach den anderen Dingen im Haus, sondern stellten Bruchstücke einer bereits gemachten oder noch zu bestehenden Erfahrung dar und waren darum von Leidenschaft und Dunkel umgeben. Marcello war sich auf seine Art und Weise über den eigentümlichen Charakter seines Besitzes im klaren, und während er einen unauslöschlichen Genuß daraus zog, litt er gleichzeitig darunter wie unter einer Schuld, die sich ständig erneuerte und ihm nicht einmal Zeit zur Reue ließ.
Von allen Dingen, die er begehrte, zogen ihn Waffen am stärksten an – vielleicht deshalb, weil er in ihnen etwas Verbotenes sah. Aber nicht die harmlosen Waffen, mit denen Kinder gerne spielen, faszinierten ihn, die Blechgewehre, die Knallpistolen, die Holzdolche. Ihn faszinierten die wirklichen Waffen, bei denen die Vorstellung von Drohung und Lebensgefahr nicht nur eine Illusion war, sondern die erste und letzte Ursache ihrer Existenz. Mit den Kinderpistolen spielte man »Tod«, ohne die Möglichkeit, ihn wirklich hervorzurufen. Mit den Pistolen der Erwachsenen jedoch konnte man den Tod tatsächlich heraufbeschwören, und nur weise Zurückhaltung vermochte dies zu verhindern. Ein paarmal hatte Marcello richtige Waffen in der Hand gehabt: ein Jagdgewehr und den alten Revolver seines Vaters, den ihm dieser in der Kassette gezeigt hatte. Bei jeder Berührung hatte ihn ein Schauder erfaßt, als hätte seine Hand im Griff der Waffe endlich die natürliche Verlängerung gefunden.
Unter den Kindern der Nachbarschaft hatte Marcello zahlreiche Freunde, und bald war ihm klar, daß seine Freude an Waffen tiefere und dunklere Gründe hatte als die kindlichen Kriegsspiele der anderen. Die spielten Soldaten und taten so, als seien sie wild und grausam. In Wirklichkeit jedoch ging es ihnen nur um das Spiel, und sie führten sich wild auf ohne inneren Anteil. Bei Marcello verhielt es sich gerade umgekehrt: Seine Grausamkeit und Wut suchten im Soldatenspiel einen Ausdruck. Und wenn sich dazu keine Möglichkeit bot, widmete er sich anderen Belustigungen, die immer mit Tod und Zerstörung verknüpft waren.
Zu jener Zeit war Marcello grausam, ohne Reue und ohne Scham. Dies schien ihm ganz natürlich, denn aus der Grausamkeit erwuchsen ihm die einzigen Freuden, die ihm nicht schal vorkamen. Außerdem war seine Grausamkeit noch so kindisch, daß sie weder bei ihm selbst noch bei den anderen Verdacht erweckte. So geschah ihm etwa folgendes: Während der heißen Tageszeit, am Anfang des Sommers, ging er in den Garten hinunter. Es war ein schmaler, aber dichter Garten mit vielen Pflanzen und Bäumen, um die sich seit Jahren niemand gekümmert hatte. Marcello war mit einer dünnen, biegsamen Gerte bewaffnet, die er auf dem Dachboden aus einem alten Teppichklopfer gezogen hatte. Eine Weile schlenderte er auf den Kieswegen unter den glühenden Sonnenstrahlen und dem Spiel der Baumschatten umher und betrachtete die Blumen. Er spürte, daß seine Augen leuchteten, daß sich sein Körper einem Gefühl des Wohlbehagens erschloß, als ginge er ein in die ganze Lebenskraft des sprießenden, lichtübergänzten Gartens. Er fühlte sich glücklich. Doch es war ein angriffslüsternes, grausames Glück, das sich am Unglück anderer messen wollte.
Da sah er inmitten eines Beetes eine schöne Gruppe weiß- und gelbblühender Margeriten und eine Tulpe mit rotem Kelch auf grünem Stengel. Sofort vollführte er einen Hieb mit seiner Gerte, ließ diese gleich einem Degen durch die Luft pfeifen. Die Gerte schnitt den Kelch und einige Blätter glatt ab, die in der Nähe zu Boden fielen … und ließ die geköpften Stengel zurück. Diese Beschäftigung verschaffte Marcello eine Verdoppelung seiner Lebenslust und jenen tiefen Genuß, den die Entfaltung einer zu lange zurückgehaltenen Energie bereitet. Überdies empfand er irgendein Gerechtigkeits- und Machtgefühl: als hätten jene Pflanzen eine Schuld auf sich geladen und wären nun von ihm dafür bestraft worden. Und er war sich bewußt, daß es eben in seiner Macht gelegen hatte, sie zu bestrafen.
Dabei war es ihm nicht ganz unbekannt, wie sehr solcherlei Zeitvertreib verboten und unstatthaft war. Fast gegen seinen Willen sah er sich dann und wann nach der Villa um. Er hatte Angst, seine Mutter könnte ihn vom Salonfenster oder die Köchin vom Küchenfenster aus beobachten. Er fürchtete nicht so sehr einen Vorwurf als vielmehr – und dessen war er sich bewußt – die Gegenwart von Zeugen bei Handlungen, die ihm selbst abnorm und auf geheimnisvolle Weise schuldverstrickt vorkamen.
Der Übergang von den Pflanzen zu den Tieren verlief unmerklich. Zwar empfand Marcello eine noch deutlichere und tiefere Freude, als er nicht mehr die Blumen köpfte, sondern irgendwelchen Tieren Gewalt antat; aber er hätte nicht zu sagen vermocht, wann er sich dieser Freude zuerst bewußt geworden war. Vielleicht hatte ihn nur ein Zufall auf diesen Weg gedrängt, ein Gertenhieb, der anstatt einer Pflanze den Rücken einer schlafenden Eidechse traf. Aber es konnte auch sein, daß eine leichte Übersättigung, ein Überdruß ihn dahin getrieben hatte, sich nach neuen Opfern für seine Grausamkeit umzusehen.
Jedenfalls hatte sich Marcello an einem stillen Nachmittag, während alle im Hause schliefen, von Reue und Scham vernichtet, plötzlich vor einem Eidechsengemetzel gefunden: Es waren sechs Tierchen, die er teils auf Ästen, teils auf Steinen ausfindig gemacht hatte.
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