Da ist also nichts zu machen, dachte Marcello enttäuscht. Er wurde jetzt zornig auf diesen Freund, der ihn ahnungslos auf seiner Abnormität festnagelte. Aber es gelang ihm, sich zu beherrschen, und er schlug Roberto vor: »Hör einmal, morgen mache ich wieder Jagd auf Eidechsen. Wenn du mitmachst, schenke ich dir das Paket Spielkarten.«
Marcello wußte, daß dieses Angebot für Roberto etwas Verlockendes hatte. Dieser hatte schon mehrmals den Wunsch nach dem Kartenspiel geäußert.
Und wirklich, Roberto antwortete jetzt, wie von einer plötzlichen Eingebung erleuchtet: »Ich komme mit dir. Aber unter einer Bedingung – wir fangen die Eidechsen lebend, sperren sie in eine Schachtel und lassen sie dann wieder frei. Und du gibst mir die Karten.«
»Nein, nein!« rief Marcello. »Der Hauptspaß besteht ja eben darin, sie mit so einer Gerte zu treffen! Ich möchte wetten, daß du das nicht fertigbringst …«
Der andere gab keine Antwort.
Marcello sprach weiter: »Also … komm morgen … Die Sache ist abgemacht. Du mußt dir nur noch eine Gerte beschaffen.«
»Nein«, sagte Roberto halsstarrig. »Ich komme nicht.«
»Warum denn nicht? Das Kartenspiel ist ganz neu!«
»Gib dir keine Mühe«, fuhr Roberto fort. »Ich töte keine Eidechsen. Nicht einmal, wenn …« Er zögerte und suchte in Gedanken nach einem Gegenstand von angemessenem Wert. »Nicht einmal, wenn du mir deine Pistole gibst.«
Marcello begriff endgültig, daß da nichts zu machen war. Plötzlich ließ er seiner Wut, die schon lange in ihm gesessen hatte, freien Lauf: »Du willst nicht, weil du ein Feigling bist«, sagte er. »Du hast ganz einfach Angst!«
»Angst? Wovor? Daß ich nicht lache!«
»Du hast Angst!« wiederholte Marcello wütend. »Ein Hase bist du! Ein richtiger Angsthase!« Unvermutet griff er mit der Hand durch das Gitter und packte den Freund beim Ohr. Roberto hatte abstehende rote Ohren, und es war nicht das erste Mal, daß Marcello ihn kniff. Noch nie aber hatte er es mit solcher Wut und mit einem so starken Wunsch getan, Roberto Schmerzen zuzufügen. »Gib zu, daß du ein Hase bist!«
»Nein! Laß mich!« jammerte der andere und wand sich. »Au! Au!«
»Gib zu, daß du ein Hase bist!«
»Nein! Laß mich!«
»Gib zu, daß du ein Hase bist!«
Das warme, verschwitzte Ohr schien in Marcellos Hand zu brennen. Tränen traten in die blauen Augen Robertos und er stammelte: »Na gut, von mir aus bin ich ein Hase …« Marcello ließ ihn sofort los. Roberto sprang vom Gitter weg und lief davon. »Ich bin kein Hase!« rief er dabei. »Während ich das sagte, dachte ich das Gegenteil! Ich hab dich reingelegt!« Seine schmerzlich-spöttische Stimme verlor sich in der Ferne, jenseits des Gebüsches, im Nachbargarten. Er war verschwunden.
Marcello blieb mit einem Gefühl tiefen Unbehagens zurück. Roberto hatte ihm die Solidarität verweigert und damit die Absolution. So war er in seiner Abnormität verblieben. Und weil er Roberto gezeigt hatte, wie wichtig ihm Solidarität gewesen war, hatte er sich zur Lüge und Gewalttätigkeit hinreißen lassen: So gesellten sich zur Scham und Reue über den Eidechsenmord neue Scham und neue Reue, weil er Roberto belogen, ihm nicht die wahren Gründe für das Gemetzel anvertraut, sich durch seinen Wutanfall verraten und schließlich Roberto beim Ohr gepackt hatte. Es war ihm unmöglich, alle diese Schuldgefühle abzuwälzen.
Während dieser unerfreulichen Betrachtungen erinnerte er sich immer wieder an den Eidechsenmord. Er hoffte im geheimen, plötzlich keine Reue mehr zu empfinden, die Angelegenheit als etwas Belangloses betrachten zu können. Zugleich wünschte er, daß die Eidechsen nie ums Leben gekommen wären. Aber bei diesem Wunsch mußte er feststellen, daß jenes gar nicht unangenehme und gerade darum so abscheuliche Gefühl körperlicher Erregung, das er bei der Jagd empfunden hatte, wieder zurückkam. Es war ein sehr starkes Gefühl, und deshalb zweifelte er daran, daß er in den kommenden Tagen der Versuchung eines erneuten Mordes würde widerstehen können. Das bestürzte ihn tief: Er war also nicht nur abnorm, sondern er konnte seine Abnormität nicht einmal beherrschen oder wenigstens eindämmen.
Marcello saß in diesem Augenblick in seinem Zimmer, an seinem Tisch, ein geöffnetes Buch vor sich, und erwartete das Abendessen. Nun sprang er auf, ging zum Bett, warf sich auf dem Bettvorleger in die Knie, wie er das beim Beten zu tun pflegte. Mit lauter Stimme, die Hände gefaltet und in einem Tonfall, den er für echt hielt, sagte er:
»Ich schwöre zu Gott, daß ich nie mehr Pflanzen, Blumen oder Eidechsen anrühren werde.«
Doch das Bedürfnis nach Absolution bestand weiter in ihm, jenes Bedürfnis, das ihn veranlaßt hatte, Robertos Spießgesellenschaft zu suchen. Nur hatte es sich jetzt in das Gegenteil verkehrt, nämlich in den Wunsch, verurteilt zu werden. Hätte sich Roberto mit ihm solidarisch erklärt, wäre ihm die Reue erspart geblieben. Doch Marcello allein besaß nicht genug Kraft, in seinem verwirrten Kopf Ordnung zu schaffen. Robertos Urteil war unannehmbar. Es war ja ein Junge wie Marcello – ausreichend als Komplice, doch unzureichend als Richter. Roberto hatte sich auf seine Mutter berufen, als er Marcellos Vorschlag ablehnte. Marcello dachte, daß auch er sich an seine Mutter wenden wolle. Nur sie konnte ihn absolvieren oder verdammen – jedenfalls seine Tat in irgendeine Ordnung bringen. Während er diesen Entschluß faßte, sah er seine Mutter als etwas Abstraktes vor sich, nämlich als die Idealmutter, die sie hätte sein sollen, aber nicht war. Im Grunde seiner Seele zweifelte er darum an einem guten Ausgang dieses Planes. Da er jedoch keine andere Mutter hatte, wurde schließlich das Bedürfnis, sich an sie zu wenden, stärker als alle Zweifel.
Nun wartete Marcello auf den Augenblick nach dem Zubettgehen, wenn seine Mutter in das Zimmer kommen und ihm »Gute Nacht« wünschen würde. Es war dies eine der wenigen Gelegenheiten, bei denen er sie allein sehen konnte. Denn während der Mahlzeiten oder der seltenen Spaziergänge war stets auch sein Vater zugegen. Instinktiv hatte Marcello nur wenig Vertrauen zu seiner Mutter, aber er liebte sie. Vielleicht mehr noch: Er bewunderte sie in staunendem Entzücken, wie man eine ältere Schwester mit eigenartigen Gewohnheiten und launischer Wesensart bewundert. Marcellos Mutter hatte sehr jung geheiratet und war moralisch und körperlich immer ein kleines Mädchen geblieben. Da sie von zahlreichen gesellschaftlichen Verpflichtungen in Anspruch genommen wurde, kümmerte sie sich nur wenig um ihren Sohn, und es bestand deshalb zwischen den beiden keinerlei Vertraulichkeit. Andererseits hatte sie aber auch nie einen klaren Trennungsstrich zwischen ihrem Leben und dem seinen gezogen. So war Marcello in einem Tumult von überstürzten Auftritten und Abgängen, von probierten und weggeworfenen Kleidern und unablässig wechselnden Launen herangewachsen. Er war groß geworden beim Anhören endloser nichtiger Telefongespräche, lärmender Auftritte mit Schneiderinnen, Lieferanten und Dienstmädchen. Marcello durfte das Zimmer seiner Mutter betreten, wann er wollte, und den neugierigen, unbeachteten Zuschauer einer Intimität spielen, in der für ihn trotzdem keinerlei Platz war. Manchmal riß sich die Mutter wie in einem plötzlichen Reueanfall zusammen und beschloß, sich ihrem Sohn zu widmen. Dann nahm sie ihn mit zur Schneiderin oder Modistin. Dort mußte er stundenlang auf einem Schemel sitzen, während die Mutter Hüte und Kleider probierte. Und schließlich wünschte er unter diesen Umständen beinahe die gewohnte wirbelige Gleichgültigkeit zurück.
Heute abend merkte er sogleich, daß es die Mutter noch eiliger hatte als sonst. Ehe Marcello die Zeit gefunden hatte, seine Schüchternheit zu überwinden, wandte sie ihm schon wieder den Rücken und ging durch das dunkle Zimmer auf die angelehnte Tür zu. Aber Marcello hatte keine Lust, noch einen ganzen Tag auf den Richterspruch zu warten, dessen er bedurfte. Er richtete sich also schnell in seinem Bett auf und rief laut: »Mama!«
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