Marcellos Entsetzen war vielfältiger Art. Sein erster Impuls war, sich in einem Schrank, in einem Verschlag, jedenfalls irgendwo im Dunkeln einzuschließen, um sich selbst zu entfliehen. Entsetzen empfand er, weil er die Katze getötet hatte. Aber noch mehr war er entsetzt, weil er ja diesen Mord am Tag zuvor seiner Mutter bereits mitgeteilt hatte: ein unzweifelhaftes Zeichen dafür, daß ihm grausame, mörderische Taten auf schicksalhaft-geheimnisvolle Weise vorausbestimmt waren. Doch beides wurde von einem noch weit größeren Entsetzen übertroffen: ER hatte tatsächlich die Absicht gehabt, Roberto zu töten. Nur einem Zufall war es zu verdanken, daß die Katze an Stelle seines Freundes ums Leben gekommen war.
Ein Zufall, dem ein Sinn innewohnte: Es ließ sich nicht leugnen, daß ein Fortschritt stattgefunden hatte – von den Blumen zu den Eidechsen, von den Eidechsen zu der Katze, von der Katze zu dem geplanten, beabsichtigten, wenn auch nicht ausgeführten Mord an Roberto. Dieser Mord war immer noch ausführbar, vielleicht sogar unvermeidlich.
So war er also anomal, dachte er. Zu diesem Gedanken trat noch ein lebendiges, körperliches Sichbewußtwerden dieser Abnormität. Das Schicksal hatte ihn demnach ein für allemal gezeichnet und ihn auf eine einsame, bedrohliche, blutige Straße gedrängt. Keine menschliche Kraft würde ihn mehr zurückhalten können.
Unter diesen Betrachtungen ging er zwischen dem Haus und dem Gartengitter hin und her und blickte dabei manchmal zu den Fenstern der Villa empor. Er hoffte beinahe, dort die Gestalt seiner frivolen, gedankenlosen Mutter erscheinen zu sehen. Aber auch sie konnte jetzt nichts mehr für ihn tun, wenn sie überhaupt je etwas hätte tun können. Plötzlich eilte er voll Hoffnung zu der Umfriedung, kletterte an der Mauer hoch und starrte durch die Gitterstäbe. Aber er erblickte keinen leeren Fleck dort, wo er zuvor die Katze gesehen hatte. Sie lag noch immer da – grau und regungslos inmitten des Totenkranzes aus weißen und violetten Blüten. Der Tod, die beginnende Verwesung des Kadavers, hatte einen schwarzen Streifen Ameisen angelockt. Der zog sich über die ganze Hecke, bis zu der Schnauze, ja bis zu den Augen des verendeten Tieres. Marcello starrte auf dieses Schauspiel. Auf einmal sah er – wie bei einer Doppelbelichtung – an Stelle der Katze den toten Roberto zwischen den Irisblüten liegen. Die Ameisen kamen und gingen über seine gebrochenen Augen und über seinen halbgeöffneten Mund. Schaudernd riß sich Marcello von dieser Vision los und sprang wieder hinunter. Dann zog er vorsichtig den Vorhang aus Efeublättern zu. Nun trat zu dem Entsetzen über sich selbst und zur Reue auch noch die Angst, entdeckt und bestraft zu werden.
Er fürchtete sich vor dieser Entdeckung und Bestrafung, fühlte aber gleichzeitig, daß er sie herbeiwünschte – nicht zuletzt deshalb, weil er hoffte, von der abschüssigen Bahn zurückgehalten zu werden, solange dazu noch Zeit war. Von dieser abschüssigen Bahn, an deren Ende unabwendbar der Mord stand. Soweit er sich erinnern konnte, hatten seine Eltern ihn sehr selten bestraft. Sie folgten allerdings nicht irgendwelchen Erziehungsgrundsätzen, die eine Strafe ausschlossen, sondern waren, wie er dunkel begriff, nur gleichgültig. Deshalb litt er jetzt nicht nur unter dem Bewußtsein, ein Verbrechen begangen zu haben und überdies noch zu weit Schlimmerem fähig zu sein, sondern auch darunter, daß er niemanden hatte, der ihn bestrafen würde. Er hatte nicht einmal eine Ahnung, worin diese Strafe bestehen müsse. Derselbe Mechanismus, der ihn dazu getrieben hatte, sich Roberto anzuvertrauen, drängte ihn jetzt dazu, seinen Eltern ein Geständnis abzulegen – darüber war sich Marcello halbwegs im klaren. Von Roberto hatte er hören wollen, daß seine vermeintliche Schuld gar keine Schuld, sondern etwas ganz Alltägliches sei. Von seinen Eltern hoffte er, daß sie in Entrüstungsrufe ausbrechen und erklären würden, diese unerhörte Tat verdiene eine angemessene Strafe. Im ersten Fall wäre die Absolution Robertos für ihn ein Ansporn zu neuen ähnlichen Taten gewesen. Von seinen Eltern erhoffte er eine strenge Verurteilung. Dieser Unterschied machte ihm allerdings wenig aus. In Wirklichkeit ging es ihm, wie er sehr wohl begriff, nur darum, aus der erschreckenden Isolierung, in der er sich befand, wieder auszubrechen – mit jedem Mittel und um jeden Preis.
Vielleicht hätte er sich schon am selben Abend während des Essens dazu entschlossen, seinen Eltern die Tötung der Katze zu gestehen. Aber er hatte plötzlich den Eindruck, daß seine Eltern bereits alles wußten. Sobald er nämlich am Tisch Platz genommen hatte, stellte er mit einer Mischung aus Angst und kaum verhehlter Erleichterung fest, daß Vater und Mutter feindselig und übellaunig wirkten. Die Mutter hatte ihrem kindischen Gesicht einen Ausdruck übertriebener Würde verliehen, saß mit niedergeschlagenen Blicken steif und schweigend da. Der Vater, ihr gegenüber, legte durch verschiedene deutliche Zeichen seine ebenso üble Laune an den Tag. Der Vater war um viele Jahre älter als die Mutter. Oft gab er in bedrückender Weise Marcello das Gefühl, er sei mit seiner Mutter in ein und dieselbe kindische Welt verbannt und seine Mutter sei gar nicht seine Mutter, sondern seine Schwester. Der Vater war hager, hatte ein trockenes und faltiges Gesicht, auf dem nur selten ein kurzes freudloses Lachen sichtbar wurde. Seine hervortretenden Augen funkelten ausdruckslos, wie Minerale; auf seiner Wange erschien häufig ein nervöses Zucken .– beides Dinge, die sicher zusammenhingen. Er liebte die kontrollierten, knappen Bewegungen, wahrscheinlich deshalb, weil er lange Jahre im Militärdienst verbracht hatte. Marcello wußte jedoch, daß er Selbstbeherrschung und Präzision immer übertrieb, wenn er zornig war. Sie verwandelten sich dann in eine seltsame Heftigkeit, die jede noch so einfache Geste mit Bedeutsamkeit erfüllte. An diesem Abend bei Tisch bemerkte Marcello sofort, daß der Vater jede gewohnte und belanglose Handlung unterstrich, als wolle er die Aufmerksamkeit der anderen darauf lenken. Zum Beispiel griff er nach dem Glas, trank einen Schluck, stellte es klirrend wieder hin. Oder er suchte nach dem Salzfaß, nahm etwas Salz heraus, knallte es auf den Tisch zurück. Nicht minder lärmend brach er das Brot in Stücke und legte sie auf den Tisch. Dann schien ihn eine plötzliche Leidenschaft für Symmetrie erfaßt zu haben: Er schob Teller und Bestecke so lange hin und her, bis Messer, Gabel und Löffel genau rechtwinkelig um den Suppenteller gruppiert waren.
Wäre Marcello weniger um sich selbst besorgt gewesen, hätte ihm schnell klarwerden können, daß alle diese mit bedeutsamer, pathetischer Energie geladenen Bewegungen seines Vaters nicht ihm, sondern der Mutter galten. Die tauchte bei jedem neuen Lärm immer tiefer in ihre Würde ein, seufzte nachsichtig und hob mit dem Ausdruck einer Dulderin die Augenbrauen. Aber Marcello war überzeugt, seine Eltern wüßten alles. Sicher hatte Roberto, dieser Hase, den Zuträger gemacht. Zwar sehnte Marcello eine Bestrafung herbei, als er aber die üble Laune seiner Eltern sah, befiel ihn plötzlich ein Ekel vor der Heftigkeit, derer sein Vater, wie er wußte, fähig war.
Seine Mutter bezeigte ihm nur gelegentlich und sozusagen zufällig ihre Zärtlichkeit – mehr aus Reue als aus Liebe. Der Vater wiederum war nur hin und wieder streng, dann aber unmäßig und ohne wirklichen Grund. Offenbar wollte er nach langen Pausen der Zerstreutheit dann und wann seiner Rolle als Erzieher irgendwie gerecht werden. Erst wenn sich die Mutter oder die Köchin über Marcello beschwert hatten, erinnerte sich der Vater plötzlich, daß er einen Sohn hatte: Er brüllte und tobte und verprügelte den Jungen. Besonders vor den Schlägen hatte Marcello Angst: Der Vater trug am kleinen Finger einen Ring mit einem massiven Stein, der während solcher Szenen stets nach innen gedreht war und zu der erniedrigenden Härte der Ohrfeigen noch einen durchdringenden Schmerz fügte. Marcello vermutete, daß der Vater den Ring absichtlich nach innen drehte, war dessen aber nicht sicher.
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