Der Wagen hielt an. Lino sprang hinaus und half Marcello beim Aussteigen. Dann ging er mit ihm auf das Tor der Villa zu. Heute schritt Lino nicht voraus, sondern hielt Marcello fest beim Arm, als fürchtete er, der Junge könnte ihm davonlaufen. Marcello wollte Lino sagen, er solle ihn weniger festhalten, aber er kam gar nicht dazu: Lino eilte mit ihm durch den Salon und stieß ihn in den Korridor. Dort packte er ihn ganz unvermutet beim Hals und sagte: »Dummkopf! Warum wolltest du nicht kommen?«
Seine Stimme war nicht mehr scherzhaft, sondern rauh und gebrochen, wenngleich noch immer irgendwie zärtlich. Überrascht wollte Marcello zu ihm aufsehen, erhielt aber einen heftigen Stoß.
Lino hatte ihn wie eine Katze oder einen Hund beim Nacken gepackt und ins Zimmer geschleudert.
Dann sah Marcello, wie Lino den Schlüssel im Schloß umdrehte und einsteckte. Nun wandte sich Lino ihm zu. Auf seinem Gesicht stand ein aus Freude und Wut gemischter Ausdruck. Laut rief er: »Jetzt ist’s Schluß! Du wirst das tun, was ich will! Schluß, Marcello! Tyrann! Kleines Luder! Schluß! Du gehorchst! Und nicht ein Wort mehr!« Dies alles rief er in einer wollüstigen, wilden Freude aus – befehlend und gleichzeitig voll Verachtung. Marcello war bestürzt. Trotz dieser Bestürzung fiel ihm auf, daß Linos Worte gar nicht aus einer Absicht, einer Überlegung herzurühren schienen. Sie wirkten eher wie die sinnlosen Strophen eines Triumphgesanges. Tief erschrocken sah er, wie Lino mit großen Schritten im Zimmer hin und her ging: Er nahm die Mütze vom Kopf und warf sie aufs Fensterbrett; er ballte ein Hemd, das über einem Stuhl hing, zu einem Knäuel zusammen und warf es in ein Schubfach; er strich die Bettdecke glatt. Dann sah Marcello, wie Lino – noch immer unter wirren Reden – das Kruzifix über dem Bett abnahm und mit übertriebener Brutalität in eine Lade warf. Marcello begriff, daß Lino mit dieser Geste zu verstehen gab, er habe nun die letzten Skrupel beiseite geschoben. Als wolle er Marcello in dieser Befürchtung noch bestärken, entnahm er dem Nachttischchen die so begehrte Pistole, zeigte sie dem Knaben und rief: »Siehst du sie? Nie wirst du sie bekommen! Du mußt tun, was ich will – aber ohne Geschenke, ohne Pistole –, aus Liebe oder mit Gewalt!«
Es ist also wahr, dachte Marcello, Lino will mich betrügen, das habe ich doch befürchtet! Er fühlte, wie er vor Wut kreideweiß wurde. »Gib mir die Pistole!« sagte er. »Oder ich gehe!«
»Nichts da! Mit Liebe oder mit Gewalt!« In der einen Hand hielt Lino die Pistole, mit der anderen packte er jetzt Marcello beim Arm und riß ihn aufs Bett nieder. Marcello fiel so heftig hintenüber, daß er mit dem Kopf an die Mauer schlug. Sogleich wechselte Lino von der Gewalttätigkeit zur Zärtlichkeit, vom Befehl zum Flehen hinüber: Er kniete vor Marcello nieder. Mit einem Arm umschlang er dessen Beine. Sein anderer Arm lag auf der Bettdecke. Die Pistole hielt er noch immer zwischen den Fingern. Lino stöhnte und rief Marcello beim Namen. Dann ließ er die Pistole los – schwarz hob sie sich gegen das Weiß der Bettdecke ab. Immer noch stöhnend umschlang Lino die Knie des Knaben mit beiden Armen. Marcello blickte dem vor ihm knienden Lino in das aufgehobene flehende, von Tränen gebadete Gesicht, auf dem die Begierde flammte. Nun senkte Lino das Gesicht und rieb es an Marcellos Beinen – wie dies treue Hunde mit ihrer Schnauze zu tun pflegen.
Marcello ergriff die Pistole. Er stand mit einem Ruck auf. Lino .– offensichtlich im Glauben, Marcello wolle seine Umarmung erwidern – ließ von ihm ab. Marcello trat einen Schritt in die Mitte des Zimmers und wandte sich um.
Wenn Marcello später an das Geschehene zurückdachte, erinnerte er sich, daß die bloße Berührung des kalten Pistolenschaftes eine erbarmungslose Versuchung in ihm geweckt hatte: Lust auf Blut. In diesem Augenblick allerdings spürte er nichts als einen heftigen Schmerz, weil er mit dem Kopf gegen die Wand geschlagen war. Zugleich war er gereizt und empfand – eine heftige Abneigung gegen Lino. Dieser kniete noch immer vor dem Bett. Als er sah, daß Marcello mit der Pistole auf ihn zielte, wandte er sich vollends um. Er breitete die Arme mit einer theatralischen Geste aus und rief, ohne sich zu erheben, im Ton eines Schmierenkomödianten: »Schieß, Marcello! Schieß mich tot! Schieß mich tot wie einen Hund!«
Marcello fühlte, daß er Lino noch nie so gehaßt hatte wie gerade jetzt: Was für eine abstoßende Mischung aus Sinnlichkeit und Strenge, Reue und Gier! Ihm war, als müsse er die Bitte Linos erfüllen. Also drückte er, entsetzt und bewußt zugleich, auf den Abzug.
Der Knall hallte heftig in dem kleinen Raum. Marcello sah, wie Lino zur Seite fiel, sich wieder erhob, ihm den Rücken zuwandte, mit beiden Händen den Rand des Bettes umklammerte. Dann zog er sich langsam in die Höhe, fiel seitwärts auf das Bett, rührte sich nicht mehr.
Marcello trat an ihn heran, legte die Pistole beiseite und rief halblaut: »Lino!« Darauf ging er sofort, ohne eine Antwort abzuwarten, zur Tür. Da fiel ihm ein, daß die Tür versperrt war, daß Lino den Schlüssel abgezogen und eingesteckt hatte. Marcello zögerte. Es widerstrebte ihm, in die Taschen des Toten zu greifen.
Plötzlich fiel sein Blick auf das Fenster. Er erinnerte sich, daß er sich im Erdgeschoß befand, schwang das Bein über das Fensterbrett und sah sich hastig um. Er wußte: Wenn jemand in diesem Augenblick vorbeikommt, bin ich hier auf dem Fensterbrett zu sehen. Aber es gab keinen anderen Ausweg für ihn. Doch niemand war zu erblicken. Jenseits der spärlichen Bäume, die den Vorplatz umstanden, schien das kühle, hügelige Land weithin verlassen.
Marcello sprang hinunter, nahm das Bücherpaket aus dem Wagen, schritt ohne Hast dem Gartentor zu. Vor sich sah er in Gedanken – wie in einem Spiegel – das eigene Bild: Ein junge in kurzen Hosen, seine Bücher unter dem Arm, geht einen mit Zypressen bestandenen Weg entlang. Eine unverständliche Figur voller Angst und böser Ahnungen.
Конец ознакомительного фрагмента.
Текст предоставлен ООО «ЛитРес».
Прочитайте эту книгу целиком, купив полную легальную версию на ЛитРес.
Безопасно оплатить книгу можно банковской картой Visa, MasterCard, Maestro, со счета мобильного телефона, с платежного терминала, в салоне МТС или Связной, через PayPal, WebMoney, Яндекс.Деньги, QIWI Кошелек, бонусными картами или другим удобным Вам способом.