War das Unglück wie ein schwarzer, immer größer werdender Punkt im heiteren Blau des Himmels, dachte er, der sich schließlich als ein räuberischer Geier entpuppt, bereit, das unglückliche Opfer anzufallen? Oder war das Unglück ein Fluch der Ungeschicklichkeit, der Unvorsichtigkeit, der Blindheit, mit der das Blut und alle Sinne geschlagen sind? Diese letzte Definition schien ihm die richtigste, denn sie führte das Unglück auf einen Mangel an Gnade, auf eine dunkle, undurchschaubare Fatalität zurück. Es gab also doch so etwas wie eine verhängnisvolle Straße. Das hatte ihm nun die Tat seines Vaters von neuem bewiesen. Er wußte: Diese Fatalität wollte, daß er einen Mord beging. Aber nicht das war es, was ihn im Grunde erschreckte. Wovor er schauderte, war die Erkenntnis, bereits zu allem, was er in Zukunft tun würde, verdammt zu sein. Und es war ihm klar, daß allein schon das Wissen um diese Dinge einen Antrieb darstellte, ihnen zu erliegen.
Später, in der Schule, vergaß er dann mit seinem knabenhaften Gemüt ganz plötzlich die soeben durchgemachten Ängste. Als Banknachbar hatte er einen seiner Quäler, einen gewissen Turchi. Der war zwar der Älteste, aber zugleich auch der Unwissendste der ganzen Klasse. Turchi hatte als einziger ein paar Stunden Boxunterricht genommen, das Boxen also nach allen Regeln der Kunst zu lernen begonnen. Sein hartes, eckiges Gesicht mit dem Haar im Bürstenschnitt, der breiten Nase und den schmalen Lippen wirkte schon wie das eines Berufsboxers. Von Latein hatte Turchi keine Ahnung. Doch auf der Straße, außerhalb der Schule, genügte es, daß er mit knotiger Hand einen Zigarettenstummel aus dem Mund nahm und sagte: »Meiner Meinung nach wird Colucci die Meisterschaft machen«, um alle anderen Jungen voll Respekt verstummen zu lassen. Turchi konnte auch die Nase mit zwei Fingern zur Seite zerren und so beweisen, daß seine Membran kaputt war: ein Kennzeichen des wahren Boxers! Er beschäftigte sich nicht nur mit Boxen, sondern auch mit Fußball und allen anderen populären und kampfbetonten Sportarten. Marcello gegenüber hatte Turchi eine sarkastische, in ihrer Brutalität beinahe nüchterne Haltung. Er war es gewesen, der zwei Tage zuvor Marcellos Arme festgehalten hatte, während die anderen vier ihm das Röckchen überzogen. Marcello glaubte nun an diesem Morgen, endlich einen Weg gefunden zu haben, um sich die Achtung Turchis zu verschaffen.
In dem Augenblick, als sich der Geographielehrer umwandte und dann mit einem langen Stab auf die Karte von Europa zeigte, schrieb Marcello in aller Eile auf ein Heft: »Heute werde ich eine wirkliche Pistole bekommen!« Darauf schob er das Heft dem Turchi zu. Dieser war zwar völlig unwissend, aber was das Betragen anging, ein Musterschüler: aufmerksam, regungslos, beinahe düster in seinem Ernst. Marcello wunderte sich deshalb immer wieder, daß Turchi nicht einmal imstande war, auch nur die einfachsten Fragen zu beantworten. Und es war ihm rätselhaft, woran Turchi während des Unterrichts dachte und warum er, obwohl er nie lernte, einen solchen Eifer vortäuschte. Angesichts des Heftes machte Turchi jetzt eine ungeduldige Bewegung, die soviel heißen sollte wie: Laß mich in Ruhe! Siehst du denn nicht, daß ich dem Unterricht folge? Marcello versetzte ihm einen Rippenstoß. Das veranlaßte Turchi zwar nicht, seine Haltung zu ändern, aber er senkte doch den Blick und begann zu lesen. Dann griff Turchi nach einem Bleistift und schrieb auf: »Glaub ich nicht!« An einer empfindlichen Stelle getroffen, beeilte sich Marcello, seine Behauptung zu bekräftigen. Er schrieb: »Ehrenwort!« Der ungläubige Turchi fragte: »Was für eine Marke?« Aus dem Konzept gebracht, antwortete Marcello nach einem kleinen Zögern: »Eine Wilson.« Er meinte eigentlich »Weston«, denn diesen Namen hatte er vor kurzem von Turchi selbst gehört. Turchi schrieb sogleich: »Nie gehört!« Darauf erwiderte Marcello: »Ich bringe sie morgen in die Schule mit.« Hier nahm das schriftliche Zwiegespräch ein plötzliches Ende, denn der Lehrer wandte sich um und fragte Turchi nach dem größten Fluß Deutschlands. Turchi erhob sich, dachte eine Weile nach und gestand endlich mit beinahe sportlicher Offenheit, diesen Fluß nicht zu kennen. In diesem Augenblick ging die Tür auf, der Schuldiener erschien auf der Schwelle und verkündete das Ende des Unterrichts.
Als Marcello bald darauf der Platanenallee zustrebte, war ihm klar, daß er Lino zur Einhaltung des Versprechens zwingen und unbedingt die Pistole erhalten müsse. Natürlich würde ihm Lino die Waffe nur freiwillig oder gar nicht geben. Es galt also, eine Haltung anzunehmen, mit der dieses Ziel am sichersten zu erreichen war. Zwar verstand er den wahren Beweggrund Linos noch immer nicht, doch mit instinktiver, beinahe weiblicher Koketterie wußte er, wie er sich würde benehmen müssen: Um in den Besitz der Pistole zu gelangen, mußte er das tun, was Lino selbst von ihm am Samstag verlangt hatte, durfte ihn nicht beachten, mußte seine Angebote überhören, seine Bitten abweisen, mußte sich – mit einem Wort – kostbar machen. Ich darf das Auto erst dann besteigen, dachte er, wenn ich sicher sein kann, daß mir die Pistole bereits gehört. Wie gesagt, warum Lino eigentlich so großen Wert auf ihn legte und ihm damit diese Art von Erpressung ermöglichte, wußte Marcello nicht. Doch mit demselben Instinkt, der ihm empfahl, Lino zu erpressen, fühlte er, daß sich hinter seinem Verhältnis zu dem Chauffeur der Schatten einer ungewöhnlichen Zuneigung verbarg. Und er ahnte auch, daß er über Lino eine ebenso peinliche wie geheimnisvolle Macht besaß. Allerdings hätte er mit Sicherheit behaupten können, diese Zuneigung und diese beinahe weibliche Rolle, die ihm in der ganzen Angelegenheit zufiel, sei ihm wirklich unangenehm. Er wollte nur vermeiden, daß ihm Lino noch einmal den Arm um die Hüften legte, wie dies im Korridor der Villa während ihres ersten Beisammenseins geschehen war.
Er bog in die Allee ein. Genau wie am vergangenen Samstag war auch heute das Wetter stürmisch und bewölkt. Der warme Wind führte überall auf seinen Wegen etwas mit sich: welkes Laub, Papierfetzen, Federn, Flocken, Zweige, Staub. Inmitten der Allee wirbelte eine Bö gerade jetzt einen Laubhaufen empor. Die Blätter stiegen bis zu den kahlen Ästen der Platanen auf. Sie kreisten unter dem düsteren Himmel und sahen aus wie zahllose gelbe Hände mit auseinandergespreizten Fingern. Marcello belustigte sich damit, dies Spiel der Blätter anzuschauen. Als er dann den Blick senkte, sah er durch das Gewirbel der Goldhände hindurch das lange schwarze, funkelnde Auto am Gehsteig halten. Langsam ging er an dem Wagen vorüber. Sogleich öffnete sich, wie ein Signal, der Schlag. Lino, ohne Mütze, beugte den Kopf heraus und fragte: »Marcello, willst du einsteigen?«
Marcello konnte nicht umhin, sich über den Ernst dieser Einladung zu wundern – nach allem, was bei ihrer ersten Begegnung besprochen worden war. Es erschien ihm geradezu komisch, wie Lino genau das tat, was er nicht zu tun sich geschworen hatte. Marcello ging weiter, als hätte er nichts gehört, und bemerkte mit dunkler Genugtuung, daß sich der Wagen wieder in Bewegung setzte und ihm nachfuhr. Links und rechts in der menschenleeren Allee erhoben sich die gleichförmigen Villen mit ihren vielen Fenstern und die dicken, schrägen Stämme der Platanen. Das Auto folgte ihm im Schritt – mit einem leisen Summen, das sich wohlig anhörte. Nach etwa zwanzig Metern fuhr der Wagen vor, hielt an, der Schlag öffnete sich von neuem. Ohne auch nur den Kopf zu wenden, ging Marcello unbeirrt weiter und vernahm die flehende Stimme: »Marcello – steig ein! Ich bitte dich, vergiß, was ich vorgestern zu dir gesagt habe … Marcello, hörst du mich?«
Marcello konnte nicht umhin, zu denken, daß diese Stimme einigermaßen widerwärtig war. Was hatte Lino denn so zu wimmern? Beinahe hätte sich Marcello für ihn geschämt.
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