Erziehungsbeistandschaft und Betreuungsweisung
Mit der Ablösung der Schutzaufsicht durch die Erziehungsbeistandschaft erfolgte rein begrifflich eine zweimalige Schwerpunktverschiebung: von der staatlichen Beaufsichtigung zur Erziehungshilfe und vom jungen Menschen auf die erziehenden Eltern als direkte Adressaten der Hilfe. Die Erziehungsbeistandschaft wurde als Unterstützungsangebot konzipiert, um die erziehungsberechtigten Eltern zu entlasten und in ihrer Erziehungsverantwortung zu stärken.
Der Einsatz einer Erziehungsbeistandschaft beinhaltet die Unterstützung eines jungen Menschen durch einen ihm zugeordneten Erwachsenen, der ihm hilft, soziale Probleme zu lösen und Entwicklungsaufgaben zu bewältigen. Damit ähnelt diese Form der Einzelfallarbeit dem Case-Work-Konzept von Mary Richmond (s.o.). Die Arbeit ist niedrigschwellig, basiert auf einer persönlichen Beziehung, wird aufsuchend geleistet und bezieht das Umfeld und seine Ressourcen in die Arbeit ein. Ziel ist die Kompensation von Erziehungsdefiziten, individuelle Förderung, Persönlichkeitsentwicklung und soziale Integration bzw. Resozialisierung (bei gerichtlicher Weisung). Die Erziehungsbeistandschaft kann wie die Schutzaufsicht durch gerichtliche Anordnung alternativ zu einer strafrechtlichen Sanktion angeordnet wie auch freiwillig auf Antrag der Eltern bei den Jugendämtern gewährt werden.
Zum Ende des 20. Jahrhunderts nahm der Anteil der Betreuungsweisungen an den Erziehungsbeistandschaften deutlich ab. So stellten die Betreuungsweisungen 1970 knapp die Hälfte der Erziehungsbeistandschaften, aber 1990 nur noch 5,8 %. Dies[26] zeigt schon vor der Einführung des KJHG einen Trend der Jugendhilfe weg vom staatlichen Eingriffshandeln und hin zu freiwilligen Unterstützungsangeboten.
Die Rechte und Pflichten der Erziehungsbeistände im JWG unterschieden sich unwesentlich von denen der früheren Schutzaufseher. Um 1960 arbeiteten Erziehungsbeistände nach wie vor weitgehend ehrenamtlich. Diese Praxis kritisierte der 3. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung 1972 und regte die Einstellung hauptamtlicher professionell gebildeter Erziehungsbeistände an. Hinzu kam eine Berichtspflicht auf Anforderung der Jugendämter und Vormundschaftsgerichte (vgl. Münder 2006).
In der Formulierung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes von 1990/91 wurde die Bezeichnung Erziehungsbeistandschaft für die Hilfe nach § 30 SGB VIII beibehalten, aber als primärer Adressat des Angebots steht eindeutig der junge Mensch im Mittelpunkt:
„Der Erziehungsbeistand und der Betreuungshelfer sollen das Kind oder den Jugendlichen bei der Bewältigung von Entwicklungsproblemen möglichst unter Einbeziehung des sozialen Umfelds unterstützen und unter Erhaltung des Lebensbezugs zur Familie seine Verselbstständigung fördern.“
Die Erziehungsbeistandschaft ist ein unspezifisches Jugendhilfeangebot und wird methodisch wie auch hinsichtlich der Rahmenbedingungen örtlich sehr unterschiedlich umgesetzt (vgl. Fröhlich-Gildhoff 2003). Die Abgrenzung gegenüber den Flexiblen Hilfen nach § 27, die nach Einführung des KJHG außerhalb des vorgegebenen Hilfekatalogs möglich wurden, und der intensiven sozialpädagogischen Einzelbetreuung (ISE) nach § 35 SGB VIII ist nicht trennscharf und auch die Indikation ist uneindeutig (s.u.). Anders als die ISE ist die Erziehungsbeistandschaft auf die Integration junger Menschen in das jeweils bestehende Sozialisationsumfeld gerichtet.
Die „Ambulantisierung der Jugendhilfe“ (vgl. Krüger 1985, Fröhlich-Gildhoff 2002: 25) nach der Einführung des KJHG hat bis heute zu einer starken Zunahme der Erziehungsbeistandschaften geführt (s.u.).
Die intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung
Die intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung nach § 35 SGB VIII (ISE) ist seit der Verabschiedung des KJHG Teil der Erziehungshilfen. Das Konzept beruht u.a. auf den Ergebnissen eines Modellversuchs zur „Heilpädagogischen Intensivbetreuung“ in den 1980er Jahren in Hessen, in dem als Alternative zur geschlossenen Unterbringung schwieriger Jugendlicher mit Eins-zu-eins-Betreuung experimentiert wurde (Fröhlich-Gildhoff 2003).
Im KJHG werden Inhalte und Aufgaben des Angebots folgendermaßen beschrieben:
„Intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung soll Jugendlichen gewährt werden, die einer intensiven Unterstützung zur sozialen Integration und zu einer eigenverantwortlichen Lebensführung bedürfen. Die Hilfe ist in der Regel auf längere Zeit angelegt und soll den individuellen Bedürfnissen des Jugendlichen Rechnung tragen.“
Von der Erziehungsbeistandschaft unterscheidet sich die ISE ursprünglich durch eine wesentlich höhere Betreuungsintensität. Die Zielgruppe dieser Hilfeform sind Jugendliche,[27] die eine Jugendhilfekarriere – häufig mehrere Pflegefamilien und Heimaufenthalte – hinter sich haben und durch herkömmliche Angebote nicht mehr erreicht werden können. Die angebotenen Unterstützungsmöglichkeiten sollen möglichst individuell auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten werden. Der Betreuungsschlüssel kann sehr hoch sein – bis zur Eins-zu-eins-Betreuung. Diese Form intensivster persönlicher Betreuung und Begleitung wurde und wird nur selten umgesetzt.
Anders als die Erziehungsbeistandschaft entstammt die ISE einer durch Psychologie, Tiefenpsychologie und Therapie beeinflussten methodischen Richtung Sozialer Arbeit. Ihr liegt die Idee zugrunde, dass junge Menschen, die unter stark belastenden Sozialisationsbedingungen aufgewachsen sind, durch eine nachsorgende, persönliche, enge Beziehung zu einer einzelnen Betreuungsperson konstruktive Bindungsmuster und Beziehungsformen lernen können. Ihr Grundmisstrauen, das sie in früheren defizitären Beziehungen erworben haben, soll durch die Erfahrung einer Vertrauensbeziehung grundsätzlich korrigiert werden. Das auf eine enge und ausschließliche Betreuungsbeziehung angelegte Setting der ISE ist inzwischen gerade für traumatisierte und/oder bindungsgestörte junge Menschen umstritten. Die hohe persönliche Intensität begünstigt emotionale Eskalationen und unabgegrenzte und damit belastende Arbeitsbeziehungen zwischen Betreuungsperson und betreutem jungen Menschen. Daher werden diese im KJHG intendierten sehr intensiven Hilfen inzwischen kaum noch realisiert. Fröhlich-Gildhoff (2003) stellt in seiner Studie zur ambulanten Einzelbetreuung gerade bei sehr intensiven Maßnahmen krisenhafte Entwicklungen fest, die er in den psychischen Vorbelastungen der betreuten jungen Menschen verursacht sieht. Tatsächlich ist es ebenso denkbar, dass die Struktur der Eins-zu-eins-Betreuung mit zu diesen destruktiven Dynamiken beiträgt.
Auch weil im Rahmen von ISE Auslandsreisen mit jungen Menschen durchgeführt wurden, die trotz hoher Kosten nicht die erhofften Wirkungen zeigten, wurde die Möglichkeit zu Auslandsaufenthalten als Jugendhilfemaßnahmen durch das Kinder- und Jugendhilfeerweiterungsgesetz 2005 eingeschränkt (vgl. Münder 2006):
„Die Hilfe ist in der Regel im Inland zu erbringen; sie darf nur dann im Ausland erbracht werden, wenn dies nach Maßgabe der Hilfeplanung zur Erreichung des Hilfezieles im Einzelfall erforderlich ist.“ (§ 27, Abschn. 2, SGB VIII).
Insgesamt lässt sich sagen, dass sich die Hoffnungen, die mit der ISE als Alternative zur Heimerziehung verbunden waren, so nicht erfüllt haben. Real stellt sie meist eine vom Stundenaufwand und der Frequenz her etwas intensivere Form der Erziehungsbeistandschaft dar, die durch ihre Ausrichtung auf Verselbstständigung vor allem bei älteren Minderjährigen und jungen Menschen zum Einsatz kommt – zum Beispiel als Betreutes Wohnen bei jungen Erwachsenen (s.u.).
Vor allem aus der ISE heraus wurden verschiedene Spezialformen der ambulanten Einzelbetreuung entwickelt:
■ Flexible ambulante Begleitung/Flexible Hilfen (vgl. Wolff 2000): Damit werden u.a. sozialräumlich orientierte, hilfeartübergreifende Konzepte auf dem Gebiet der ehemaligen DDR nach der Wiedervereinigung bezeichnet. In diesem Sinne bedeutet „Flexible Hilfen“ eine Bereitstellung ambulanter, teilstationärer und stationärer Angebote „unter einem Dach“ oder „aus einer Hand“ z.B. in sogenannten Jugendhilfestationen oder Jugendhilfezentren (Rätz-Heinisch, Schröer, Wolff 2009: 146ff.). Die Kombination verschiedener Angebote bei einem Träger ermöglicht grundsätzlich eine bessere Anpassung des Hilfesettings an die individuellen Fallbedürfnisse[28] und -aufgaben, kann aber auch eine einseitige Ausrichtung an ökonomischen Notwendigkeiten beinhalten.
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