Du bist fortgeschritten, wenn du dir selbst nicht mehr im Weg stehst, sondern deinen Weg gehst. Den Weg, der dich zu deinem Ziel bringt. Gehe ihn entschlossen und habe Freude daran, dass du ihn gehst, ich begleite dich!
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Die Mutter aller Übungen. Die Königsdisziplin. Die Ganzkörperübung, die in jedem Home-Workout zu finden ist. Die Kniebeuge wird immer als unabdingbar und notwendig beschrieben. Sie sollte in jedem Trainingsplan zu finden sein, weil sie eine der Grundübungen für einen starken Körper darstellt. Wie mit allen Generalisierungen sollte man auch hierbei wieder relativieren.
Ich bediene mich des Konzepts der Kniebeuge und des Spagats, um dir die relevanten Übungen für mehr Hüftbeweglichkeit und um dir gleichzeitig den Übertrag auf das Training mit dem eigenen Körper näherzubringen. Ich werde in diesem Buch also weniger auf die Ausführung der Kniebeuge mit Langhantel eingehen (hierzu gibt es bereits großartige Bücher, z. B. von Pürzel und Pürzel).
2.1DIE EVOLUTION DER HOCKE
Als ich vor ca. fünf Jahren mein erstes Seminar bei Ido Portal besuchte, kam ich zum ersten Mal mit dem Thema der Hocke in Kontakt. Er erzählte davon, dass wir uns als Menschen in vielerlei Hinsicht zurückentwickelt haben. Am Beispiel der Kniebeuge wurde mir dann deutlich, was er meinte, als wir 10 Minuten lang in der Hocke zig verschiedene Übungen gemacht haben.
Nach bereits einer Minute brannten meine Schienbeine, als wäre ich gerade 10 km gelaufen. Nach einer weiteren Minute brannten mein unterer Rücken, meine Knie und meine Sprunggelenke. Ich bin nach nicht einmal zwei Minuten in Schweiß ausgebrochen und mein ganzer Körper gab mir das Zeichen, aufzuhören.
Natürlich durften wir nicht aufstehen und sobald man umfiel, hieß es:
„Come back up, that’s the price you got to pay!” („Setze dich wieder auf, das ist der Preis, den du zahlen musst!”)
Wenngleich es nicht die sinnvollste Trainingsmethode ist, komplette Anfänger von null auf hundert durch unbekannte Bewegungsmuster zu drillen, wurde mir ein Punkt mehr als deutlich. Ich durfte für mein jahrelanges einseitiges Training als Leistungsfußballer Tribut zahlen.
2.1.1WAS DU NICHT BENUTZT, VERLIERST DU
Manche Menschen zahlen ihn früher, manche später. Unsere Degenerationsgesellschaft ist darauf getrimmt, mit so wenig Bewegung und so viel Komfort wie möglich zu leben. Aufzüge, die eigentlich für die Menschen gedacht sind, die durch körperliche Einschränkungen darauf angewiesen sind, verkommen zum einfachen Weg für die Faulen, der Menschen näher dahin bringt, irgendwann auch auf einen Aufzug angewiesen zu sein.
Wo wir noch als kleine Kinder im Sandkasten in der Hocke spielen, können manche Jugendliche schon keine Rolle vorwärts mehr. Die Kniebeuge ist ein perfektes Beispiel für das Verlieren von körperlichen Fähigkeiten, wenn wir diese nicht mehr benutzen.
Der Satz „use it, or lose it”(„Benutze es oder verliere es”) ist zwar sehr populär geworden durch Bücher wie Sitzen ist das neue Rauchen . Dennoch sind wir uns meistens nicht bewusst, wie groß das Ausmaß unserer Einschränkung wirklich ist, bis wir diese Fähigkeit auf einmal wieder brauchen.
Nehmen wir die Kniebeuge als Beispiel. Die Hocke (quasi eine isometrische Kniebeuge) ist eine Bewegung, die jedes Kleinkind beherrscht. Im Kindergarten bekommen wir nette, kleine Stühlchen, damit wir am Tisch sitzen können. Dort beginnt unsere Karriere als hauptberufliche Sitzer.
Je größer wir werden, desto seltener benutzen wir die Knie und die Hüfte, um unter die 90° zu kommen, die uns unser Stuhl vorgibt. Wir kommen im nächsten Kapitel noch darauf zu sprechen, warum wir uns als Erwachsene nicht unbedingt an Kleinkindern orientieren können, wenn es um die Hüftbeweglichkeit geht.
Vorher schauen wir einmal kurz nach Asien oder Osteuropa. Dort ist es Usus, dass man in der Kniebeuge sitzt, wartet, auf dem Boden isst. Ido erzählte auf dem Seminar von seiner Reise nach Asien. Er saß in einem Café gegenüber von einer Bushaltestelle. Dort saß ein älterer Mann, schätzungsweise 70 Jahre alt, in einer tiefen Kniebeuge, eine Zigarette rauchend.
In dem Dorf kam der Bus alle 30 Minuten und der Mann wartete. Er erzählte, dass der Bus nach weiteren 20 Minuten kam und als Ido wieder zum Mann sah, saß der immer noch seelenruhig in der Hocke, stand gemütlich auf und stieg in den Bus.
Was klingt wie eine langweilige Beschreibung einer alltäglichen Situation in einem kleinen asiatischen Dorf, wird zu einer Tragikomödie, wenn man sich dieselbe Situation in Berlin vorstellt. Opa Bernd würde gar nicht erst in die Kniebeuge kommen, sondern mit seinem Rollator auf der Wartebank sitzen. Sein Enkel Tim kommt eventuell noch in die Hocke, jedoch würde er nicht mehr den Bus bekommen, wenn dieser vorfahren würde. Nachdem er 20 Minuten gewartet hat, wird Tim, im Versuch, aufzustehen, einfach der Länge nach hinten umfallen und erst mal nicht mehr hochkommen, weil seine Beine eingeschlafen sind.
Lange Rede, kurzer Sinn, mir und auch vielen meiner Klienten ergeht es lange Zeit so. Damit du deine Lernkurve verkürzen kannst, zeige ich dir auf den folgenden Seiten, wie ich, als stocksteifer Fußballer, eine tiefe Kniebeuge gelernt habe.
Zunächst müssen wir klären, wie eine Kniebeuge aussehen sollte. Doch zuallererst räumen wir auch hier mit ein paar Mythen auf:
2.2.1JEDER SOLLTE EINE TIEFE KNIEBEUGE KÖNNEN
Was von Beweglichkeitsspezialisten und Movementanhängern oft propagiert wird, ist häufig nicht mehr als ebensolches: Propaganda.
Wie Andreas Pürzel und ich erst kürzlich in einem Gespräch zum Thema Mobilitytraining übereingekommend festgestellt haben, stellen einige „Experten” die tiefe Kniebeuge als „Must-have” heraus, wenngleich nicht jeder Mensch rein anatomisch dazu in der Lage ist.
Ich möchte niemandem bösartige Absichten unterstellen. Deshalb räumen wir mit dem größten Mythos direkt zu Beginn auf. Mehr zur Erklärung folgt in Kap. 2.3.
2.2.2DIE KNIE DÜRFEN NICHT ÜBER DIE ZEHENSPITZEN HINAUSRAGEN
Dieser Mythos ist hartnäckig wie kein zweiter. Lediglich der letzte Kniebeugenmythos kann das noch toppen. Die Angst, dass es schädlich für deine Knie sei, diese vor deine Zehenspitzen zu schieben, ist komplett unbegründet.
Hintergrund dessen war, dass lange Zeit behauptet wurde, dass es den Druck auf das Kniegelenk erhöht. Natürlich tut es das! Wenn wir uns bewegen in Relation zur Schwerkraft, wird Druck auf die Gelenke kommen. Das ist normal und physiologisch. Zumal der Anpressdruck der Patella (Kniescheibe) bei 90° am höchsten ist und die Belastung auf deinem Hüftgelenk sogar noch größer ist als auf deinem Knie.
Du darfst deine Knie über deine Zehenspitzen schieben! Zum Teil wirst du Mobilityvarianten lernen, die genau das zum Ziel haben, um die Beweglichkeit deiner Sprunggelenke zu verbessern.
2.2.3KNIEBEUGEN AUF EINEM WACKELBRETT SIND GUT FÜR MEHR STABILITÄT
NEIN! Ich habe das Wackelbrett-/Schaumstoffkissenthema zwar bereits im CxM 1.0 angesprochen, dennoch will ich hier die Aussage nochmals herausstellen. Dein Nervensystem lernt Bewegungen spezifisch (SAID-Principle). Das bedeutet, wenn du die Kniebeuge lernen willst, wenn du darin stärker werden möchtest, aber deine Knie immer wieder hin- und herschlackern, trainiere mit einer Regression, die es dir erlaubt, stabil zu bleiben.
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