Warum?
Weil du dich durch Mobility auf komplexere Art und Weise mit deinem Körper auseinandersetzt. Statt Bewegungen geführt an Maschinen zu machen, bist du nun damit beschäftigt, deinen Körper durch den Raum zu bewegen. Wenn du anfängst, dich freier zu bewegen, wirst du merken, dass Schwerkraft manchmal ganz schön gemein sein kann.
Wenn du bei dem Versuch, eine tiefe Kniebeuge auszuführen, mehrfach nach hinten umfällst, so wie ich noch vor vier Jahren, kann das sehr frustrierend sein.
Was ich damit aber vor allem herausstellen will, ist, dass du deinen Körper und deine Bewegungen, die du lernen willst, immer in Relation zur Kraft sehen musst, die auf deinen Körper einwirkt. Das heißt, passive Maßnahmen, wie manuelle Therapie, lang gehaltene Dehnungen oder Ausrollen mit der Faszienrolle, sind keine probaten Mittel, um deine Beweglichkeit, deine Bewegungskompetenz oder Schmerzen zu verbessern.
Mobility definiert sich als aktives Beweglichkeitstraining, das immer eine Kraftkomponente integriert.
Die folgenden Konzepte aus dem Calisthenics X Mobility 1.0 -Buch geben dir einen kurzen Überblick, wie Beweglichkeit funktioniert und was du für das Mobilitytraining wissen solltest. Für ausführlichere Informationen empfehle ich dir, nochmals einen Blick in unser erstes Buch zu werfen.
1.3.1DEIN NERVENSYSTEM – INPUT, VERARBEITUNG, OUTPUT
Alle Prozesse in deinem Körper werden von deinem Nervensystem gesteuert. Somit ist es wichtig, zu wissen, wie unser Nervensystem in Grundzügen funktioniert, um zu verstehen, warum ich aktive Maßnahmen den passiven nahezu immer vorziehe.
Dein Nervensystem nimmt die ganze Zeit Informationen aus verschiedenen Bereichen des Körpers auf, verarbeitet diese und gibt daraufhin eine Aktion. Bei der Verarbeitung fragt sich dein Nervensystem: „Bin ich sicher bei dem, was ich mache?”
Aufgabe Nummer eins deines ZNS ist, immer erst das Überleben zu sichern. Danach entscheidet es, wie viel Kraft, Beweglichkeit und Muskelspannung freigegeben oder eingesetzt werden kann, um die bevorstehende Aufgabe zu bewältigen.
Wenn die Informationsgrundlage unzureichend oder nicht adäquat ist, wirst du das Gefühl haben, verkürzt zu sein, keine Kraft wirken lassen zu können oder gar Schmerzen bekommen. Abgesehen von Traumata und akuten Verletzungen kann eine unzureichende Informationsgrundlage daher kommen, dass du über lange Zeit bestimmte Bewegungen nicht mehr gemacht oder überhaupt noch nie trainiert hast. Später, in Kap. 2, kommen wir hierauf noch einmal zurück.
Das Ziel von Mobilitytraining ist unter anderem, dem Nervensystem unbekannte Gelenkpositionen vertrauter zu machen und die Wahrnehmung für das Ansteuern von Gelenk und Muskulatur zu schulen (Propriozeption).
Um es dir einfach zu machen, wie du dein Mobilitytraining gestalten kannst, kannst du dich erst mal an „die großen drei” halten. Sprich, die Hauptbewegungsachsen des Körpers, Schulter, Wirbelsäule, Hüfte. Handgelenke (ausführlich im ersten Buch besprochen) und Sprunggelenke (werden in Kap. 2vorgestellt) etc. sind natürlich ebenso wichtig. Um dich aber zu Beginn auf das Wesentliche zu fokussieren, ist die Einteilung in die großen drei ein hilfreicher Leitfaden.
1.3.3ISOLATION – INTEGRATION – IMPROVISATION
Wie lässt sich Mobility effektiv trainieren? Dafür ist das Prinzip von Isolation, Integration und Improvisation geeignet.
Isolation beschreibt das Ansteuern einzelner Gelenke unabhängig voneinander. Du lernst beispielsweise, deine Wirbelsäule in den drei unterschiedlichen Bereichen HWS, BWS und LWS getrennt voneinander zu bewegen. Dies ist wichtig, um in Bewegungen wie dem Pull-up die Fähigkeit zu haben, die LWS gekippt in der Hollow-Body-Position halten zu können, während deine BWS eher in die Streckung gebracht wird, um in eine schultergerechte Position ziehen zu können.
Wenn du gerade ein paar Fragezeichen auf der Stirn stehen hast, was eine Hollow-Body-Position ist und welche Bedeutung diese im Calisthenics hat, lies dir noch mal die Zusammenfassung in Moniques Abschnitt durch oder schaue im ersten Buch nach.
Integration beschreibt die komplexeren Mobilityübungen, bei denen du mehr als ein Gelenk auf einmal mobilisierst. Meistens stützt du mit der Schulter am Boden, während du deine Wirbelsäule rotierst. Oder du beugst dich aus der Wirbelsäule, während du auch deine Oberschenkelrückseite auf Länge bringst und gegen Widerstand arbeitest.
Improvisation ist dann jede mögliche Bewegung ohne Fokus auf spezifische Mobilisierung. Es ist der Punkt, an dem du dich frei bewegst und welche sportliche oder alltägliche Bewegungsherausforderung du an deinen Körper stellst, du hast die Voraussetzungen geschaffen für einen starken, beweglichen und schmerzfreien Körper.
Beweglichkeitstraining ist nicht wichtiger als Kraft- oder Ausdauertraining. Noch ist dies andersherum der Fall. Eine gesunde Mischung aus allem ist für unseren Körper meist das Beste. Im Folgenden wirst du lernen, wie du die Kniebeuge und den Spagat erlernst und warum nicht jeder diese beiden Bewegungen bis ins Unermessliche trainieren sollte.
Im Verlauf der Kapitel wirst du einige Begriffe und Redewendungen lesen, die wir als Coaching Cues (verbale Anweisungen zum besseren Verständnis einer Bewegung) verwenden und die die Position des Körpers und der Gelenke einfacher und präziser beschreiben. Diese findest du im Anhang als Glossar.
Ab wann ist man fortgeschritten beim Mobilitytraining? Bevor ich die Frage beantworte, möchte ich mit ein paar Mythen aufräumen, die häufig mit dem Thema Beweglichkeitstraining assoziiert werden:
1.4.1ALLES MUSS BEWEGLICH SEIN ODER MOBILISIERT WERDEN
Kurzum: Nicht jedes Gelenk muss und sollte mobilisiert werden! Natürlich sollte in den meisten Gelenken ein gewisses Maß an Bewegungsfreiheit und die Kontrolle über diese ROM vorhanden sein, aber nicht jede Struktur im Körper sollte bis aufs Äußerste beweglich gemacht werden. Manche Gelenke, wie unter anderem die LWS, der Ellbogen und die Knie, sind Pfeiler, die uns in unseren Bewegungsachsen funktionell Stabilität geben. Mehr dazu kannst du im ersten Buch zum Thema Joint-by-Joint-Konzept nachlesen.
1.4.2JEDER MUSS DIE GLEICHEN BEWEGLICHKEITSNORMEN ERFÜLLEN
Wie du später in den Kapiteln zur Kniebeuge und zum Spagat erfahren wirst, kann nicht jeder einen Spagat lernen oder eine tiefe Hocke. Nicht jeder muss maximal beweglich sein. Viel wichtiger ist es, den Menschen in seiner Gesamtheit als lebendes Individuum innerhalb seines sozialen Kontextes mit seinen physiologischen und psychologischen Voraussetzungen zu betrachten. Hierbei spreche ich vom biopsychosozialen Modell (BPS-Modell), welches den Menschen mit all seinen Kontextfaktoren in Bezug zu seinen Problemen, Anforderungen und Zielen setzt.
Nehmen wir Tante Frieda beispielsweise. Sie ist 70 Jahre alt und ihre regelmäßige Bewegung findet sie in ihrem täglichen einstündigen Spaziergang. Braucht Tante Frieda eine tiefe Kniebeuge oder gar einen Spagat? Nein! Sie braucht genügend Hüftmobilität und -kraft, um alleine von der Toilette aufstehen zu können und wenn sie fallen sollte, dass sie aus eigener Kraft vom Boden aufstehen kann. Sprich eine Kniebeuge von 90° ist ausreichend für sie.
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