»Was … Mutter … vor der Kirchentür ausgesetzt? Ich … ich habe gar keine Eltern … bin ein Findelkind?« Raymund war bis in die Tiefe seiner Seele getroffen. Mutter setzte sich neben ihn und nahm ihn in die Arme, Helena tat dies von der anderen Seite. Trotz der körperlichen Nähe fühlte er eine nie gekannte Einsamkeit. Er kam sich nackt und schutzlos vor. Allein und angreifbar. Lange verharrten sie so umschlungen, doch je länger er die beiden Frauen umarmte, umso deutlicher wurde ihm bewusst, dass diese Frau, die ihm so viele Jahre Mutter gewesen war, mehr gegeben hatte, als eine leibliche Mutter ihm vielleicht hätte geben können.
Es war Helena, die ruckartig die Verbundenheit der Umarmung verließ und rief: »Aber dann, Raymund, Raymund … Dann sind wir … Das heißt doch auch, dass wir gar nicht Bruder und Schwester sind.«
Er verstand nicht, sah aber die Begeisterung in ihren Augen.
»Wenn wir nicht einmal verwandt sind, dann können wir heiraten! Sagt doch, Mutter, kann ich denn jetzt Raymund heiraten?«
»Lass Raymund erst einmal zur Ruhe kommen, er hat jetzt weiß Gott an andere Dinge zu denken!«
»Mutter, wisst Ihr, wer mich vor die Kirchentür gelegt hat? Leben denn meine Eltern noch?«
»Die Els von Ettringen hatte mir Jahre vorher prophezeit, dass ich ein Kind von einem Pfaffen bekommen würde, daher glaube ich, dass dein Vater ein Geistlicher gewesen sein muss. Mehr wissen wir nicht. Vergesst nicht, dass das Jahr ’63 mit seinen Seuchen, Katastrophen und Hungersnöten eines der schlimmsten war, an das sich selbst die Ältesten erinnern können. Joseph Hueber hat mir nach Wochen erzählt, dass ein Scholar mit einem Säugling bei ihm geläutet habe, er ihm aber nicht aufgemacht habe, weil es die Pestgesetze verboten. Ich vermute, dass deine Mutter bei deiner Geburt gestorben ist, man nach einem Priester gerufen hat, der sich deiner angenommen und dich in seiner Hilflosigkeit und Verzweiflung vor die Kirche hat legen lassen.«
»Wie konnte er denn zur Kirche kommen, wenn es niemandem von außerhalb erlaubt war, das Dorf zu betreten?«, wollte Raymund wissen.
»Auch der Torhüter vom Südtor war in dieser Nacht gestorben. Es war sicherlich der Wille Gottes, dass der Fremde mit seinem Neugeborenen in Leeder Aufnahme gefunden hat und mir die Gnade zuteilwurde, dein Leben zu retten.«
»Ich habe mir schon so etwas gedacht und jetzt ist mir auch klar, warum Hans Jakob als Letztgeborener und nicht Raymund das Erbe erhalten soll«, ergriff Helena mit leicht vorwurfsvollem Unterton das Wort.
»Wenn Hans Jakob nach seinem Studium aus Padua zurückkommt, wird er das Rüstzeug haben, das Gut zu leiten und auch die Aufgaben der niederen Gerichtsbarkeit zu übernehmen. Es hatte sich sehr früh abgezeichnet, dass ein Studium für dich nie infrage kommt, nicht wahr, Raymund? Davon abgesehen hat Vater bestimmt, dass dir dein Erbteil zusteht wie allen seinen Kindern.«
»Und wenn es nicht so wäre, ich nehme dich, so wie du bist, Raymund, und für mich bist du der Beste«, rief Helena strahlend und küsste ihn.
Warm und weich war sie suchend in seinen Mund eingedrungen, vor den Augen der Mutter. Wie zu einem Tanz umspielten sich ihre Zungen. Es war nicht mehr ein Kuss der Schwester, es war der Kuss der Geliebten.
Venedig, Ostermontag 221581
Über den Winter war die Einfahrt in die Lagune gesperrt. Viele Schiffe überwinterten an der Mole oder im Arsenal. Erst nach Ostern würde es wieder erlaubt sein, aufs offene Meer hinauszufahren. Alfonso konnte nicht so lange untätig sein. Also hatte er die Zeit genutzt und sich einen Platz vor der Kirche San Bartolomeo, in der Nähe der Rialtobrücke erkämpft, wo ein Gewirr von Sprachen, Farben und Gerüchen herrschte, und tat das, was er am besten konnte: Er log die Sterne vom Himmel herunter und erzählte den Menschen abenteuerliche Geschichten von Kometen, Missgeburten, wilden Tieren und Seeungeheuern. Er seufzte, als er daran dachte, wie einfach es früher gewesen war, die Leute mit seinem Vortrag zu fesseln, während seine Kinder durch die Menge geschlichen waren und der abgelenkten Zuhörerschaft die Beutel abgeschnitten hatten. Die Kinder lebten nun ihr eigenes Leben auf den Straßen des Reiches, so hoffte er, und er musste froh sein über jede Münze, die gnädig in seinem Hut landete.
»Alfons Pauli, du bist frei!«, hatte am 10. Dezember in Augsburg derselbe Ratsherr verkündet, der ihm eine Woche vorher das Urteil verlesen hatte, dass er geköpft werden sollte. Reisen, um zu leben! Nur für eine Tätowierung auf dem Rücken und den Auftrag, mit Gottes Segen bei den Türken einen Heinrich Lauber zu finden, dafür wurde seine Hinrichtung in eine Reise umgewandelt. Eine Schifffahrt nach Konstantinopel. Das Glück war auf seiner Seite. Mitten im Winter war er zu Fuß von Augsburg über die Berge nach Venedig gelaufen. Fünfundzwanzig Tage durch Schnee und Matsch. Das Geld, das der Medicus ihm mitgegeben hatte, war für die Überfahrt bestimmt, er lebte von der Hand in den Mund wie ein Bettler. Aber er lebte und dankte Gott für jeden einzelnen Tag. Er war sich sicher, dass Marfisa dort oben ein gutes Wort für ihn eingelegt hatte, für sein zweites Leben. Im Gefängnis hatte er sich mit warmer Kleidung eingedeckt. Sie half ihm über die kalten Nächte hinweg, die er in einem verlassenen Ruderboot verbrachte. Aus einem der schmutzigen kleinen Seitenkanäle hatte er es sich an Land gezogen.
»Von wegen Serenissima! Stinkendes Drecksloch!« Alfonso musste laut lachen. »Das war mein letzter Auftritt in Venedig, ich danke euch, ihr Gutgläubigen«, nuschelte er in seinen Bart, als er die Münzen in seinem Hut zusammenzählte. Alfonso hatte gehört, dass sich an der Mole etwas tat. Er wollte so schnell wie möglich an Bord eines Schiffes und lief durch die Gassen auf den Markusplatz, vor dem ein gutes Dutzend Frachtschiffe zum Beladen angelegt hatte. Drei davon hatten Konstantinopel zum Ziel. Er hatte es sich einfacher vorgestellt. Vielleicht lag es an seinem Äußeren – immerhin hatte er sich letztmals beim Tätowierer in Augsburg waschen und rasieren können –, dass zwei Kapitäne ihn trotz seines Beutels mit zehn Silbergulden abwiesen. Der letzte sah wenig vertrauenswürdig aus. Den Gerüchten am Hafen zufolge kam er aus Tripolis, sein Schiff hieß Shihab 23. Sein weißer Bart hob sich vom dunklen Gesicht ab, das von tiefen Furchen durchzogen war. Sein rechter Arm fehlte, dafür schwenkte er in seiner Linken eine Peitsche und trieb seine Mannschaft an, die schwere Fässer auf das Schiff rollte.
Zögerlich ging Alfonso auf ihn zu und hielt ihm den Beutel mit den Silberlingen hin. »Konstantinopel?«, fragte er.
Der Kapitän nahm ihm den Beutel aus der Hand, zählte gierig die Geldstücke und nickte freudig. Mit einer abfälligen Bewegung schickte er Alfonso auf die Rampe. Er gehörte nun zur Besatzung der Shihab.
2227. März
23Arabisch: Sternschnuppe.
Augsburg, 2. April 1581
Raymund saß an diesem Sonntag zum Konventikel bei der Witwe Eiselin. Er wunderte sich, Onkel Hieronymus nicht anzutreffen, der bisher keine Versammlung ausgelassen hatte. Er versuchte, sich zu konzentrieren, konnte aber kaum den Worten der Schrift folgen. Seine Gedanken waren weit entfernt. War seine leibliche Mutter bei seiner Geburt gestorben? In welch einer Lage musste sein Vater gewesen sein, dass er sich dazu entschlossen hatte, das eigene Kind wegzugeben? Gleichzeitig wurde ihm immer mehr bewusst, wie sehr er Mutter dankbar sein musste, dass sie ihn wie ein eigenes Kind aufgenommen und geliebt hatte. Und Helena hatte recht. Er konnte sie heiraten. Die Gesellenprüfung musste her, das war das Ziel, das er nun vor Augen hatte. Aber es gab immer noch Probleme: die Geheimnistuerei mit dem Lauf, den David mit ihm zusammen in Angriff genommen hatte, und das schlechte Gewissen um seine abendlichen Abwesenheiten vom Benzenauer, wenn er bei David in der Werkstatt stand. Wenigstens auf Jos, seinen guten Freund, konnte er sich verlassen, der würde ihn niemals verraten.
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