»Um Himmels willen, was für ein schrecklicher Tod.« Otto spürte, wie das Blut aus seinen Wangen wich.
»Wer wider Erwarten sechs Monate die Torturen einer Gefangenschaft überlebt, hat drei Möglichkeiten: Wenn er einen Patron hat oder irgendwie zu Geld gekommen ist, kann er sich freikaufen und zurück in die Heimat, das gelingt nur den Wenigsten. Den Turban nehmen, sich beschneiden lassen und Allah fünfmal täglich auf den Knien nach Mekka gerichtet anbeten, ist die Alternative. Flucht ist so gut wie unmöglich, denn jeder erkennt sofort die rasierten Köpfe. Also bleibt nur noch übrig, so lange zu arbeiten, bis man tot umfällt.«
»Was glaubst du, wofür sich Rico entschieden hat?«
»Woher sollte er das Geld haben, sich freizukaufen? Sie haben ihm sicher alles abgenommen. Den Turban nehmen? Ich glaube nicht, dass Rico so etwas macht. Hast du ihn jemals auf Knien gesehen? Ein Stier wie er arbeitet vielleicht immer noch irgendwo. Wer weiß?«
»Rico in Ketten? Das ist schwer vorstellbar. Er ist geschickt genug, einen Weg für sich zu finden. Wenn er wüsste, dass Erminio diesen Brand überlebt hat und jetzt mit noch mehr Hass und Verbitterung als Großinquisitor unser Land von Bamberg bis Partenkirchen in Angst und Schrecken versetzt, würde er sicher handeln.«
»Was sagst du da? Erminio treibt im Hochstift sein Unwesen? Du hattest mir doch geschrieben, dass du ihn in Rom wiedergesehen hast. Ich war der Meinung, dass er in diesem Kloster dort seine Wunden leckt und auf das Ende seiner Tage wartet.«
»Ein frommer Wunsch, der alle Probleme lösen würde. Er hat von Papst Pius V. den Kardinalshut bekommen. Auf dem Sterbebett hat der Papst seinem Wunsch entsprochen und ihn als Großinquisitor für die Provinz der Dominikaner im Süden des Reichs über die Alpen geschickt. Seit vier Jahren brennen die Scheiterhaufen und die Köpfe rollen; es ist schlimm. Da er seine Legitimation von ganz oben hat, sind wir alle machtlos. Auch der jetzige Papst, mein verehrter Boncompagni, enttäuscht mich schwer, weil er ihn gewähren lässt. Was denkst du, Oktavian, würde Rico machen, wenn er wüsste, dass der Kardinal noch lebt?«
»Ich weiß nicht, Otto, aber Nichtstun war noch nie Ricos Sache und das hast du mit ihm ja wohl gemeinsam«, Oktavian legte seine Stirn in Falten.
»Ja, ich versuche alles, was mir möglich ist. Bei einem Gespräch, das ich vor einiger Zeit im Namen von Dutzenden aufgebrachten und verzweifelten Amtsleuten und Versehern mit dem Kardinal persönlich in Dillingen geführt habe, hat er mir erklärt, dass mir, als Freund eines Mörders, der Weg in weitere kirchliche Ämter versperrt sei. Glaubst du, wir könnten Rico irgendwie aufspüren?«
Oktavian lächelte gequält. »Rico aufspüren? Die Suche nach einem einzelnen Gefangenen im gesamten Osmanischen Reich, wenn er denn noch leben sollte, ist schwierig, aber wir sollten nichts unversucht lassen. Da fällt mir ein – ich erinnere mich an einen jungen Theologen mit Namen Salomon Schweigger, der mit Joachim von Sinzendorf, dem Botschafter Kaiser Rudolfs II. in Konstantinopel, persönlich bekannt ist. Er hat ihn als Reise- und Gesandtschaftsprediger in sein Gefolge aufgenommen. Die Delegation ist am 10. November von Wien aus aufgebrochen und auf dem Weg nach Konstantinopel. Vielleicht ergibt sich dadurch die Gelegenheit zu erfahren, was mit Rico geschehen ist. Es wird sicher bei den Türken Listen von Gefangenen geben. Der Habsburger Botschafter wird ja schließlich auch mit Gefangenenaustausch, Freikauf oder Konvertiten zu tun haben, was meinst du?«
»Das wäre eine Möglichkeit! Es ist schön von dir, dass du dir meine und die Sorgen des Hochstifts zu eigen machst!«
»Ich bin mitverantwortlich und habe außerdem ein schlechtes Gewissen. Nur weil wir der Truppe, die unsere Mine verteidigen sollte, eine modernere Ausrüstung verweigert haben, konnten die Türken erfolgreich sein.«
»Halte mich auf dem Laufenden, Oktavian! Du weißt, wo du mich finden kannst!« Otto war froh, in seinem Kampf nicht mehr allein zu sein.
9Geht, es ist Sendung.
Leeder, zwei Tage vor Sankt Mattheis 101579
»… und das ewige Licht leuchte ihr. Herr, lass sie ruhen in Frieden. Amen«, stimmten die Marianischen in die letzten Worte des Pfarrers ein. Die alte Keggelbäuerin lag aufgebahrt zwischen den Schneebergen vor dem Haus. »Endlich hot dia arm Seel a Ruah«, die Mesnerin war die Erste, die den Weihwasserpinsel von Pfarrer Engelschalk in die Hand nahm und die Tote besprengte. Nacheinander verabschiedeten sich die Marianischen von der alten Bäuerin. »Mei Zenz, jetzt kommsch halt doch in an luthrische Friedhof«, jammerte die Schmelzerin. Die Trauernden wollten gerade der Aufforderung der jungen Bäuerin Folge leisten, ins Haus zu kommen, als sie von Weitem das Glöckchen des Totengräbers hörten, das dieser seiner alten Mähre umgehängt hatte. Er saß auf einem Schlitten und zog hinter sich einen Sarg durch den Schnee.
»Brr, alter Knabe! Von wegen Mattheis bricht’s Eis«, war seine Begrüßung, als er schwungvoll vom Schlitten stieg und den alten Schlapphut mit der langen Feder vom Kopf nahm. »Mein Beileid, Keggel. Ich werde deine Mutter einsargen, aber beerdigen können wir sie erst, wenn der Boden aufgetaut ist, und das wird noch gut einen Monat dauern.«
»Des hau i mir scho denkt«, antwortete der Keggel und sah besorgt zu seiner Frau.
»Du nimmsch se aber doch mit, oder?«, fragte der Keggel.
»In meiner Scheune stapeln sich die Särge, ich habe keinen Platz mehr, wir müssen sie schon so lange hier lassen«, verkündete der Totengräber.
»Kansch denka, dia kommt mir nimma ins Haus, des sag i ui glei!«, rief die junge Bäuerin energisch dazwischen.
»Dann dea mer se naus in de Schupfa 11!«, willigte der Keggel ein.
»Wie ihr wollt«, bemerkte der Totengräber und machte sich an die Arbeit.
»Kommet rei, es gibt ebbas Warms zum Drinka!«, lud der Keggel die Trauergemeinde, die sich nicht zweimal bitten ließ, in die warme Stube.
1024. Februar
11Allgäuerisch: Scheune.
Schongau, zwei Tage nach Sankt Benedikt 121579
»Die Flößer sind wieder da, Gerhild! Stell den durstigen Brüdern das Bier hin, aber sofort kassieren, gell, die seh ich, wenn überhaupt, ein ganzes Jahr nicht mehr.« Der Wirt hatte frisches Bier gezapft und vier schäumende Humpen bereitgestellt, die Gerhild an den Tisch der bärtigen und ungepflegten Gesellen brachte.
»Da hast du aber eine bildhübsche Magd, Semmer! Wo hast du die denn her? Das kann doch keine hiesige sein, so mögele 13und liebreizend, wie die ist. Komm her, meine Schöne, ich zeig dir meine Ruderstange! Die ist so lang, mit der komm ich auf jeden Grund!«, grölte einer von ihnen, und die anderen lachten lauthals.
»Mach dir nichts draus, Gerhild«, versuchte der Wirt zu beschwichtigen. »Es sind halt raue Burschen, die das Holz auf dem Lech aus den Bergen herunterbringen. Die haben seit Wochen keinen Rock mehr gesehen und sind große Sprücheklopfer.« Dann wandte er sich an die Flößer. »Lasst mir die Gerhild in Ruh, sonst setz ich euch so schnell vor die Tür, dass ihr mit Schauen gar nicht mehr nachkommt!«
Das beeindruckte die Männer wenig. Gerhild sammelte eifrig die Münzen ein, die auf dem Tisch verstreut waren und suchte so schnell wie möglich das Weite.
Fast ein Jahr stand sie nun im Dienst des Sternenwirts. Nach ihrer Befragung und der üblen Erpressung durch den Dillinger Stadtrat hatte sie das Haus und alle Habseligkeiten verkauft, die nicht in eine Reisekiste passten, und hatte mit ihrer kleinen Tochter Maria die Heimat auf einem Fuhrwerk in Richtung Süden verlassen. Weit waren sie nicht gekommen. Auf der Fahrt von Dillingen nach Italien übernachteten sie im Gasthaus »Sternen« in Schongau. Nach nur vier Tagen als alleinstehende junge Frau auf den Straßen hatte sie es sattgehabt, von wildfremden Knechten, Kutschern und Fuhrleuten als billige Hure betrachtet und dementsprechend angesprochen zu werden. Der Wirt, Hans Semmer, hatte sofort Gefallen an ihr gefunden und ihr eine Stelle als Magd angetragen. Niemand hatte sie nach Stand, Herkunft oder Vergangenheit gefragt. Sie wurde schnell beliebt bei den Wirtsleuten und den Gästen, führte ein arbeitsreiches, aber sorgenfreies Leben und konnte es sich sogar leisten, Maria in die Schule zu schicken. Mehrere Heiratsangebote von Gästen der Wirtsstube hatte sie bisher abgelehnt. Zu sehr hing ihr Herz noch an ihrem verstorbenen Mann, als dass sie eine neue Bindung hätte eingehen können.
Читать дальше