Offenbar wusste Evan um jene Sehenswürdigkeiten, die man besuchen konnte, ohne Eintritt bezahlen zu müssen, und so schlenderten wir den größten Teil des Vor- und Nachmittags durch die Ausstellungsebenen des Nationalmuseums und informierten uns neben der Entwicklung des Königreichs Schottland vom Mittelalter bis in die frühe Neuzeit unter anderem auch über die politische und sozioökonomische Transformation Schottlands im Zeitalter der Industrialisierung.
Nachdem wir unser Wissen über schottische Geschichte und Kultur ausgiebig aufgefrischt hatten, pilgerten wir anschließend über den Weihnachtsmarkt in den Princes Street Gradens, wo wir die gewonnenen Eindrücke neben dem charmanten Karussell mit einem Glühwein in der Hand sacken ließen. Offenbar weckte das schmackhafte Wintergetränk unsere Ausgehlaune, daher beschlossen wir, den Abend in einer der zahlreichen Bars ausklingen zu lassen. Dabei ließen wir es uns nicht nehmen, mit einem kurzen Auftritt auf der ansonsten menschenleeren Tanzfläche die Blicke der übrigen Gäste auf uns zu ziehen. Ich genoss Evans ungezwungene Gesellschaft, konnte jedoch nicht leugnen, dass ich auch froh war, die kommende Nacht wieder in Scarletts Wohngemeinschaft übernachten zu dürfen, wo ich zwar nicht ganz so königlich untergebracht war wie bei Luigi, mich jedoch, zumindest was den Sauberkeitsstandard betraf, wohler fühlte als bei Evan.
Die Erinnerung an Scarlett, die regelmäßig um 22 Uhr ins Bett ging, ließ mich einen kurzen Blick auf die Uhr werfen und drängte mich zum Aufbruch. Wir tranken unser Bier aus und Evan begleitete mich zur Bushaltestelle Princess Street, direkt am Übergang von der Altstadt zur Neustadt. Von dort aus führte eine Linie direkt nach Bruntsfield. Wartend und schweigend standen wir da. Ich schielte mehrmals auf die Zeitanzeige meines Mobiltelefons und ließ dann wieder meine Augen nervös über die Princess Street Gardens schweifen. Statt jedoch die herrliche Aussicht auf die Burg und die Altstadt zu genießen, kreisten meine Gedanken unentwegt um den Umstand, dass ich keinen Schlüssel zu Scarletts Wohnung besaß und die Zeit bereits derart fortgeschritten war, dass ich es nie und nimmer pünktlich dorthin schaffen würde. Die Vorstellung, Scarlett letztlich wecken zu müssen, um in die Wohnung zu kommen, war mir unangenehm und ich hoffte inständig, dass sie mir meine Verspätung nicht übelnehmen würde. Als der Bus endlich eintraf, schnappte ich erleichtert mein Gepäck, bedankte mich zum Abschied bei Evan für seine Gastfreundschaft und den schönen Tag in Edinburgh und stieg ein.
Gedankenversunken ließ ich die interkulturellen Erfahrungen der vergangenen Tage revuepassieren, durch die ich mich reich beschenkt fühlte. Kein Tourismusmanager der Welt hätte mir diese Stadt auf authentischere Weise nahebringen können als meine drei reizenden Gastgeber, die trotz aller Unterschiede ihre vorbehaltslose Weltoffenheit Fremden gegenüber gemeinsam hatten. Ich schaute leichten Herzens aus dem Busfenster auf die vorbeirauschende Landschaft, die mir überraschenderweise viel zu wenig beleuchtet vorkam. Augenblick mal, Landschaft?! Herrje, das durfte doch nicht wahr sein! Hatte ich etwa allen Ernstes meinen Ausstieg verpasst?! Erschrocken sprang ich von meinem Sitz auf und wandte mich an die ältere Dame, die mir schräg gegenübersaß.
„Ja, da hätten Sie bereits vor zwei Stationen aussteigen müssen“, klärte sie mich freundlich auf.
Entsetzt riss ich meinen Arm hoch und signalisierte dem Busfahrer meinen Haltewunsch. Der zeigte sich nun seinerseits überrascht und stoppte. Ich sprang gestresst auf den Gehsteig und musste mich erstmal sammeln. Als ich mich der Vollständigkeit meiner Gepäckstücke versichert hatte, begann ich mit meinem kleinen Reiserollkoffer in den Händen und der Zeit im Nacken unweigerlich zu rennen, als könnte ich dadurch meine Verspätung wieder aufholen. Schnaufend wie eine Dampfwalze kam mir plötzlich eine Passage aus dem Buch von Robert Betz in den Sinn, die ich erst kürzlich gelesen hatte. In der Tat hasste ich es, zu spät zu kommen, und die Vorstellung, Scarlett dadurch möglicherweise Unannehmlichkeiten zu bescheren, passte so gar nicht zu dem Pflichtbewusstsein, zu dem ich von meinen Eltern erzogen worden war. Doch, war ich nicht gerade im Begriff, dem bekanntesten Mantra anheimzufallen, unter dem nahezu die gesamte westliche Bevölkerung litt? Pünktlichkeit! Hatte ich wirklich keine Zeit zu verlieren, oder war das lediglich ein Glaubenssatz, ein „alter Schuh“ sozusagen, den ich in genau dieser Situation abstreifen konnte, um möglichweise zum ersten Mal in meinem Leben bewusst anders zu reagieren? Erst gestern hatte ich nach der Buchlektüre auf Luigis Couch die Entscheidung getroffen, mein Leben grundlegend zu ändern, und jetzt barg genau dieser Moment das Potenzial, einen neuen Gedanken zu denken, wenigstens über Zeit. Augenblicklich entschied ich, genau das Gegenteil von dem zu tun, was mir mein Verstand einzureden versuchte: Ich blieb stehen. Ich nahm meine innere Unruhe wahr, spürte meinen schnellen Herzschlag und hörte, wie mein Atem von dem kurzen Sprint hastig und deutlich vernehmbar aus meinem Mund ein- und ausströmte. Dann versuchte ich zur Ruhe zu kommen und hörte alsbald, wie ein neuer Vorsatz flüsternd und gleichzeitig voller Entschlossenheit den Weg über meine Lippen nahm:
„Heute entscheide ich mich neu. Ich entscheide mich, neu zu denken über die Zeit, die ich habe. Es ist genug Zeit da. Von heute an will ich mich nicht mehr abhetzen, sondern mir Zeit nehmen für das Wichtigste in meinem Leben: für mich selbst. Ich entscheide mich für die Langsamkeit.“
Während ich noch eine weitere Minute mit geschlossenen Augen auf dem Gehsteig verweilte, kam mir die Idee, Scarlett einfach anzurufen, um ihr Bescheid zu geben, dass ich mich verspäten würde. In aller Seelenruhe griff ich nach meinem Handy und wählte Scarletts Nummer, um ihr die Situation zu erklären und mir Zeit zu verschaffen. Erleichtert über ihre verständnisvolle Reaktion setzte ich mich wieder in Gang, diesmal aber mit der größtmöglichen Achtsamkeit: einen Fuß vor den anderen. So langsam und bewusst wie schon lange nicht mehr ging ich die Straße entlang, bis ich schließlich eine halbe Stunde später mein Nachtquartier erreichte. Stolz hielt ich an der Straßenecke kurz vor Scarletts Wohnung inne und klopfte mir in Gedanken auf die Schultern. Scarlett war nicht wegen Schlafentzug gestorben. Unser Verhältnis war nach wie vor ungetrübt. Obendrein war es mir gelungen, zum ersten Mal in meinem Leben aus der Masse der Gehetzten auszusteigen und bewusst Nein zur Rastlosigkeit zu sagen.
Ein Gefühl von Freiheit durchströmte mich, als ich mich wenig später in die wohlriechende Bettwäsche kuschelte. Ruhig und friedlich schlief ich auf meinem Gästebett in Scarletts Zimmer ein.
Silvester stand vor der Tür und ganz Edinburgh befand sich unübersehbar in den Vorbereitungen für Hogmanay, jenem schottischen Festtag, an dem sich Hunderttausende von Menschen zum Jahreswechsel in der Hauptstadt treffen. Ich freute mich auf das gigantische Feuerwerk vor der spektakulären Kulisse des Edinburgh Castles und setzte große Erwartungen in die legendäre Party, die laut Aussage diverser Veranstalter in keinem anderen Land der Welt mit vergleichbarer Leidenschaft gefeiert wird. Doch statt einem unvergesslichen Silvesterrausch begleitete mich ein zunehmender Schmerz in der Nierengegend beim abendlichen Übergang in das neue Jahr, sodass ich mein Partyvorhaben revidierte und mich für einen kurzen Besuch in der Notaufnahme des nächsten Krankenhauses entschied. Den Rest der Nacht verbrachte ich mit Scarlett und Jesus von Nazareth zu Hause. Während draußen Tausende von Feiernden entlang der Princess Street zu Livemusik tanzten, verfolgten Scarlett und ich die von Mel Gibson verfilmte Verurteilung und Kreuzigung Jesu durch die Römer und seine Auferstehung.
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