Es ist durchaus denkbar, dass die sprachmittelnden, die interkulturellen und die sprachreflexiven Ansätze kombiniert werden; zum Teil dürften die Trennlinien ohnehin nicht immer scharf gezogen werden können. Im Fall (iii), einer lexikalischen unterrichtlichen Situation, kann die Behandlung von Interlexemen sowohl sprachmittelnd, interkulturell als auch sprachreflexiv erfolgen. Sprachmittelnd können Interlexeme z.B. beim Wortschatzausbau helfen (vgl. Meißner 2000). Interkulturell können sie bezogen auf die Zuschreibung eines Sachverhalts oder Gegenstands zu einer Kultur reflektiert werden. Die unterrichtliche Arbeit mit Interlexemen ermöglicht zudem Reflexionen über Entlehnungsprozesse und Sprachkontakt (vgl. Meißner 2000).
Bedingung 1:Die Einbindung von Herkunftssprachen in den Deutschunterricht hängt von der didaktischen Zielsetzung ab.
Die didaktische Zielsetzung interagiert mit sprachtypologischen Aspekten. Die Relevanz sprachtypologischer Merkmale für die reflektierende Einbindung der Herkunftssprache(n) zeigt sich z.B. im Fall (iv), wenn ein Schüler oder eine Schülerin mit Portugiesisch als Herkunftssprache nach der Plusquamperfekt-Auxiliarselektion gefragt wird: Portugiesisch bildet das Plusquamperfekt nicht periphrastisch (Schmitt 2001), daher ist die Frage falsch gestellt.
Bedingung 2:Die Einbindung von Herkunftssprachen in den Deutschunterricht hängt von sprachtypologischen Merkmalen der auf das Deutsche zu beziehenden Sprache ab.
Die relevanten sprachtypologischen Merkmale und didaktischen Ansätze hängen mit den unterrichtlich zu behandelnden sprachlichen Ebenen der Einzelsprache(n) zusammen, je nachdem ob Aufgaben zu ihrer Phonetik, Phonologie, Graphematik, Morphologie, Syntax, Semantik, Pragmatik etc. erfolgen. Ein sprachmittelnder Ansatz, der sich im Fall (v) auf das Russische im Vergleich zum Deutschen bezieht, eignet sich aufgrund des im Russischen verwendeten kyrillischen Alphabets zumindest dann nicht, wenn es um die Vermittlung der lateinischen Buchstaben geht. Semantisch eignet sich der progressive Aspekt des Russischen zur Sprachmittlung bzw. -reflexion der rheinischen Verlaufsform allerdings sehr wohl. Syntaktisch und morphologisch unterscheiden sich die rheinische Verlaufsform und der russische Progressiv jedoch.
Bedingung 3:Die Einbindung von Herkunftssprachen in den Deutschunterricht hängt von den adressierten sprachlichen Merkmalen ab.
Sprachliche Kompetenzen werden in der Regel durch personenbezogene Hintergrundmerkmale bedingt. Dazu zählen z.B. der Status als Erst-, Zweit- oder Fremdsprachler, die Sprachbiographie, der Literalisierungsgrad und der Grad des erfolgten Schriftspracherwerbs. Für den deutschunterrichtlichen Einbezug sind sie sowohl schüler- wie lehrerseitig relevant: Nur Lehrkräften, die über ausreichend strukturelles Hintergrundwissen zu den Herkunftssprachen ihrer Schülerinnen und Schüler verfügen, kann ihr sachadäquates unterrichtliches Einbinden gelingen. Damit ist nicht gemeint, dass die Lehrkräfte die jeweiligen Sprachen selbst beherrschen müssen, sondern dass sie über metasprachliche Kenntnisse über die jeweiligen sprachlichen Strukturen und Besonderheiten verfügen.
Folgender Fall (vi) soll dies belegen: Wer als Lehrkraft in einer deutschunterrichtlichen Behandlung das Modussystem anderer Sprachen reflexiv einbeziehen möchte, muss mindestens wissen, dass es Sprachen mit und ohne morphologisch distinkten Konjunktiv gibt (vgl. die Beiträge in Rothstein / Thieroff 2010). Eine Frage des Typs „Was drückt der Konjunktiv im Italienischen aus?“ verbietet sich aufgrund des dort fehlenden morphologisch distinktiven Konjunktivs. Italienisch bedient sich der Consecutio Temporum, der syntaktisch geregelten Distribution von Verbformen in bestimmten Kontexten, die ihm modale Lesarten erlauben (Squartini 2010). Anders gesagt: Im Italienischen besorgen Tempora in bestimmten Verwendungen den Job, den der Konjunktiv im Deutschen hat. Ein reflektierender Vergleich zwischen dem italienischen und dem deutschen Modussystem kann also nicht einen morphologisch distinktiven Konjunktiv zum Gegenstand haben, sondern muss bei den (relevanten) Funktionen ansetzen, die übereinzelsprachlich belegbar sind und diejenigen Formen identifizieren, die sie bedienen (vgl. Rothstein 2010 für ein entsprechendes Vorgehen beim deutsch-französischen Vergleich). Die Einbindung des Italienischen gelänge, wenn Consecutio Temporum und der deutsche Konjunktiv verglichen würden. Dass ein solches Vorgehen auch hohe schülerseitig zu erbringende Vorkenntnisse erfordert, sollte deutlich sein. In diesem Zusammenhang sollte die schülerseitige herkunftssprachliche Sozialisation sehr differenziert betrachtet werden, z.B. kann nicht zwingend davon ausgegangen werden, dass die Herkunftssprache auch in der dritten Generation nach der Einwanderung weitergegeben wurde und ob sie daher schülerseitig „vollständig“ beherrscht wird bzw. ob eine Identifikation mit ihr besteht.
Bedingung 4:Personenbezogene, schüler- wie lehrerseitige Hintergrundmerkmale bedingen die Möglichkeiten der Einbindung von Herkunftssprachen in den Deutschunterricht.
Wurden die Schülerinnen und Schüler nicht oder nicht ausreichend schriftsprachlich in ihren Herkunftssprachen sozialisiert, so kann die schriftliche Einbindung ihrer Sprachen nicht gelingen. Sind sie wie im Fall (vii) nicht in der Lage, in ihrer Sprache zu lesen, so sind alle Versuche, sie zur Dekodierung relevanter schriftlicher Strukturen zu bringen, zum Scheitern verurteilt. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn das herkunftssprachliche Schriftsystem stark vom deutschen Schriftsystem abweicht. Haben die Herkunftssprache und das Deutsche das gleiche Buchstabeninventar und ähneln sich die Graphem-Phonem-Korrespondenz-Regeln stark, so sind schülerseitige selbständige Transferleistungen aus dem Deutschen auf das herkunftssprachliche Schriftsystem eher möglich als in Fällen mit geringer Übereinstimmung (vgl. etwa Harweg 1989 für schriftsystematische Zusammenhänge zwischen verschiedenen europäischen Sprachen). Im Fall (viii) könnte sich folglich ein Schüler selbst eher das Lesen in seiner finnischen Herkunftssprache in Form von Transfer durch seine Lesekompetenzen des Deutschen beibringen als ein Schüler mit Russisch als Herkunftssprache, das eine andere Alphabetschrift als das Deutsche hat (vgl. Harweg 1989). In diesem Fall (ix) bedürfte es einer familiären, privaten oder institutionellen Unterstützung bzw. Anleitung, um herkunftssprachliche Lesekompetenzen zu entwickeln, oder zumindest der Bereitstellung von Materialien, um selbständig lesen zu können. Folglich muss gelten:
Bedingung 5:Die mediale Präsentation der Herkunftssprachen (schriftlich vs. mündlich) regelt ihre Einbindungsmöglichkeiten in den Deutschunterricht.
Ein weiterer relevanter Faktor ist die Art der schülerbezogenen Adressierung und das damit verbundene kommunikative Ziel der Einbindung der Herkunftssprachen: Werden die betreffenden Schülerinnen und Schüler als Expertinnen und Experten, lediglich als Informantinnen und Informanten oder gar als „Abweichlerinnen und Abweichler“ befragt?
Die Rolle als „Abweichlerin und Abweichler“ ist stigmatisierend und kann durch Bemerkungen des Typs „bei Euch in eurer Sprache ist eh alles anders“ entstehen. Sie sollte nicht nur aus pädagogischen Gründen vermieden werden und scheint besonders in Fällen stigmatisierter Sprachen und Sprechergruppen der Fall zu sein. Brizić / Lo Hufnagl (2018) diskutieren beispielsweise Aussagen von österreichischen Lehrkräften zu Schülerinnen und Schülern mit Kurdisch und Romani, zwei Sprachen, die „lange Phasen der Verfolgung und Stigmatisierung durchliefen: das Kurdische u.a. in der Türkei, das Romani u.a. im ehemaligen Jugoslawien und Nachfolgestaaten“ (Brizić / Lo Hufnagl 2018: 224). Deutlich wird, dass die interviewten Lehrkräfte Herkunftssprachen nur in bestimmten Konstellationen positiver betrachten.
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