Als Marac Kresnan von seiner Geschäftsreise von der Erde nach TONGA-II zurückkehrte, existierte Curanien nicht mehr. Der Tsunami hatte das gesamte Land und sämtliche Einwohner vernichtet. Eine riesige Schneise der Verwüstung, mehrere Hundert Kilometer in Breite und ebenfalls mehrere Hundert Kilometer weit ins Landesinnere reichend, war das Einzige, was übrig geblieben war.
Tongalen hingegen war bei dieser Katastrophe relativ glimpflich davongekommen. Die Ausläufer der Flutwelle hatten zwar auch die Nordküste des Kontinents erreicht, jedoch bereits in so abgeschwächter Form, dass außer einigen harmlosen Überschwemmungen keine nennenswerten Schäden entstanden waren.
Für Marac Kresnan brach die Welt zusammen. Er, der bisher das perfekte Leben gelebt, eine glückliche Familie und ein erfolgreiches Geschäft besessen, der bisher nie mit großen Rückschlägen, geschweige denn mit Katastrophen zu tun gehabt hatte, stand plötzlich vor dem Nichts.
Da, wo vor kurzem sein Haus gestanden, wo sich seine Firma befunden hatte, wo seine Kinder zur Schule gegangen waren, wo sich eine ganze Stadt erstreckt hatte, gab es nur noch Trümmer.
Eine Rückkehr war unmöglich.
Er flog zur Erde zurück. Seinen einzigen Besitz trug er am Körper und in seinem Gepäck. Die guten Geschäftsbeziehungen halfen ihm, hier Fuß zu fassen und so gut es ging zu überleben. Mit seinen dreiunddreißig Jahren hatte er sein Leben praktisch noch vor sich. Die neue Umgebung sollte es ihm einfacher machen, über den schmerzlichen Verlust hinwegzukommen.
In den nächsten Jahren schaffte er es, dank seinen guten Fähigkeiten als Vermittler, für sich alleine eine neue Existenz aufzubauen. Auch wenn ihm die von wirtschaftlicher Korruption und heuchlerischer Bigotterie geprägte Gesellschaft der Erde nicht behagte, hatte er TONGA-II nie wieder aufgesucht.
Curanien wurde nicht wieder aufgebaut. Man hielt das Risiko für zu groß, dass es noch einmal zu einer ähnlichen Katastrophe kommen könnte.
Tongalen hingegen blühte weiter auf. Es wurde ein Frühwarnsystem für unterseeische Beben und Tsunamis eingerichtet. Es blieb weiterhin ein religionsloses Land, geprägt von offener Meinungsäußerung und Freizügigkeit ohne falsche Tabus. Neue Kolonisten, die sich diesem Lebensstil nicht unterordnen konnten, bildeten eine kleine Minderheit.
Langsam geriet die Tatsache, dass Curanien je existiert hatte, in Vergessenheit.
4.
Ernest Walton saß in seiner Lieblingsbar im Raumhafen von Geneva und nippte an einem Glas Four Roses. Zum wiederholten Mal sah er auf seine Uhr, obwohl jedes Mal nicht mehr als ein paar wenige Minuten verstrichen waren, und stieß einen leisen Fluch aus.
»Pünktlichkeit scheint heute aus der Mode gekommen zu sein«, brummte er vor sich hin, doch niemand beachtete ihn.
Ernest Walton war ein Phänomen. Mit seinen hundertneunundzwanzig Jahren und dem Aussehen eines knapp Siebzigjährigen stellte er die Fachwelt vor ein Rätsel. Ärzte und Wissenschaftler vermuteten, er sei bei einem seiner Raumflüge in den Einflussbereich einer fremdartigen Strahlung geraten.
Mit seiner schlanken, eins achtzig großen Figur und dem silbergrauen Haar, das er im Nacken zu einem Zöpfchen zusammengebunden trug, hinterließ er einen kräftigen und drahtigen Eindruck. Doch in seinem Gesicht widerspiegelte sich ein sympathisches Wesen. Seine Augen strahlten Güte und Wärme aus. Seine Nase erinnerte an die eines stolzen Indianerhäuptlings.
Bis vor knapp dreißig Jahren hatte er Abenteuerromane geschrieben, die sich zu der damaligen Zeit in Form von digitalen Hörbüchern sehr gut verkauften. Dieses Medium war zwar ein Relikt aus der Zeit zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts, hatte sich jedoch erstaunlich lange halten können.
Ernest Walton hatte sich mit den Einnahmen seiner Romane eine beträchtliche Summe auf die Seite legen können, von der er bis heute nur einen kleinen Teil verbraucht hatte. Er benötigte im Leben nicht viel, um glücklich zu sein. Seine Bescheidenheit wurde allgemein geschätzt.
Als der Konsum von digitaler Hörliteratur unter den Menschen aus der Mode kam, vor allem jüngere Generationen immer mehr Interesse an technischen Spielzeugen zeigten, die man für alles Mögliche verwenden konnte, hatte er mit dem Schreiben aufgehört und beschlossen, selbst Abenteuer zu erleben. Dazu kaufte er sich von seinen Ersparnissen einen kleinen Raumgleiter und gründete das interstellare Transportunternehmen Space Hoppers Limited.
Sein Unternehmen hatte sich auf Aufträge spezialisiert, für die sich andere Transportunternehmen nicht interessierten oder sich wegen bestimmter Umstände oder mangelnder finanzieller Lukrativität zu schade waren.
Doch bald merkte Ernest, dass er sein Unternehmen nicht mehr alleine führen konnte, und bot seinem langjährigen Freund Eric Daniels an einzusteigen. Eric ließ sich nicht zweimal bitten.
Ernest leerte sein Glas, worauf der androide Barkeeper ihn fragte, ob er nachschenken dürfe. Ernest nickte und legte die Finger seiner rechten Hand auf den Zahlscanner, von denen es direkt in den Tresen integriert an jedem Sitzplatz einen gab. Mit dem kurzen Aufleuchten eines kleinen grünen Quadrats auf dem Display bestätigte das Gerät das Erkennen des Fingermusters. Ernest tippte seinen Geheimcode ein. Ein weiteres grünes Quadrat besagte, dass der Betrag für das Getränk von seinem Konto abgebucht worden war.
In dem Moment, als er das Glas an seine Lippen führte, setzte sich ein Mann in einer schäbigen Kunststoffjacke neben ihn, klappte sein Hoverboard zusammen und legte es unter den Sessel. Er war völlig außer Atem.
»Na endlich!« Ernest zeigte sich verstimmt. »Dachte schon, du kreuzt heute gar nicht mehr auf.«
Mark Henderson atmete ein paar Mal tief durch, bevor er antwortete. »Die ließen mich mit meinem Gleiter in der Luft hängen, konnte nicht landen. Anscheinend gab es irgendein technisches Problem.«
Kaum hatte Mark zu Sprechen begonnen, tänzelte auch schon der Barkeeper heran und fragte ihn mit seiner übertrieben freundlich klingenden Stimme: »Was darf ich Ihnen servieren?«
»Ein kaltes Bier, bitte«, antwortete Mark, worauf sich die synthetischen Hände des Roboters sogleich daran machten, ein Glas voll aus dem Hahn zu zapfen.
Als Ernest den Drink bezahlen wollte, winkte Henderson ab und erledigte dies mit seinen eigenen Fingerabdrücken. »Kommt nicht in Frage. Wenn ich schon zu spät komme, kann ich wenigstens meinen Drink selbst begleichen.« Dann hob er das Kunststoffglas und sagte: »Zum Wohl.«
Ernest hob ebenfalls sein noch halb volles Whiskyglas und murmelte: »Ich verstehe nicht, wie du dieses synthetische Zeugs trinken kannst.«
»Mir schmeckt’s. Du solltest dir lieber mal Gedanken über einen neuen Raumgleiter machen«, nuschelte Henderson, nachdem er das Glas zur Hälfte geleert und sich den Schaumstreifen an der Oberlippe mit dem Jackenärmel abgewischt hatte.
»Bei jedem neuen Auftrag nervst du mich damit. Der Kahn tut‘s noch allemal für mich. Mit den neuartigen Dingern komm ich sowieso nicht mehr klar. Die haben zu viel technischen Schnickschnack.«
»Ach, das ist gar nicht so schlimm. Du hättest es auf jeden Fall einfacher, und es wäre wesentlich sicherer. Ich mache mir jedes Mal Gedanken darüber, ob du von den Aufträgen überhaupt wieder zurückkehrst.«
»Bis jetzt hab ich es immer ohne Probleme geschafft.«
»So ganz ohne Probleme auch wieder nicht. Ich möchte dich nur ungern an deinen vorletzten Auftrag erinnern.«
»Meinst du etwa den Schlamassel mit den exotischen Viechern?«
»Ja, genau den.«
»Da konnte ich doch nichts dafür. Mit meinem Gleiter hatte das auch nichts zu tun. Diese Dinger waren ausgebüxt und hatten mein Schiff verwüstet. Was glaubst du, warum keine andere Gesellschaft diesen Auftrag übernehmen wollte.«
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