Nach dem Zusammenbruch des Finanz- und Weltwirtschaftssystems stürzte auch die Industrie in eine große Krise. Viele Betriebe mussten schließen, technische Entwicklungen wurden eingestellt und die Fabrikation von alltäglichen Gütern auf ein Minimum beschränkt. Luxus verschwand gänzlich von der Bildfläche. Mehr und mehr wurde die Gesellschaft von einem harten Überlebenskampf geprägt. Die Kinder der neuen Menschheit wurden in eine Epoche geboren, in der man von den florierenden Zeiten nur noch in Büchern lesen konnte, ein Medium, das durch den technischen Fortschritt vor den Krisen schon fast nicht mehr existierte.
Während der technische Fortschritt, kurz vor den Krisen wegen der damals drohenden Überbevölkerung und Ressourcenknappheit, vor allem in der Raumfahrt große Anstrengungen erfahren hatte, sodass sich in fremden Sonnensystemen Kolonien bilden konnten, kam er in den Krisenjahren gänzlich zum Erliegen. Die Kolonisation von neuen Planeten geriet dabei in Vergessenheit. Zeitweise unterhielt man mit den bestehenden Kolonien keinen Kontakt mehr. Digitaltechnik und Virtualität wurden mehr und mehr zu einem Mythos. Es machte zeitweise sogar den Anschein, als würde sich die Menschheit in mittelalterliche Zustände zurückentwickeln.
In diesen schwierigen Zeiten konnten religiöse Institutionen und Sekten verschiedener Glaubensrichtungen expandieren und ihre Positionen massiv stärken. Die Menschheit suchte wieder vermehrt Halt im Glauben. Traditionelle kirchliche Werte gewannen an Bedeutung. Und die Prediger trugen das ihre zum Wandel bei. Vielerorts verkündeten sie in größter Polemik, der lockere Lebenswandel aus früheren Zeiten hätte das Teuflische heraufbeschworen und sei für die Krisen verantwortlich. Der größte Teil der Menschheit huldigte ihnen Respekt und besann sich wieder auf Sitte und Moral. Doch auch Glaubensstreitigkeiten und Intoleranz nahmen zu und erzeugten neue Konflikte und weitere Krisen. Wieder begann man sich gegenseitig zu bekämpfen.
Ein kleiner Teil von Menschen konnte sich mit religiösen Rechtfertigungen zu den Geschehnissen und entsprechenden Trostspenden nicht zufriedengeben und versuchte, die wahren Ursachen zu ergründen. Doch jene Minderheiten wurden wegen ihres Denkens und Handelns ausgegrenzt, diskriminiert und verfolgt. Mordanschläge, oft sogar von Sekten und religiösen Institutionen selbst in Auftrag gegeben, waren keine Seltenheit.
Zu Beginn des zweiundzwanzigsten Jahrhunderts wurden neue technische Anstrengungen unternommen. Man erinnerte sich an die alten Errungenschaften und versuchte, sie neu zu beleben. Die digitale Nanotechnik, die vor den Krisenjahren noch in den Kinderschuhen steckte, konnte sich zur dominierenden Innovation entwickeln und fand in jedem noch so winzigen Gerät Einzug.
Man versuchte, zu den Kolonien wieder diplomatische Beziehungen aufzubauen und mit ihnen Handel zu treiben. So konnten diese einen neuen Zustrom von irdischen Einwanderern verzeichnen, was für sie nicht nur Vorteile brachte. Ohne Kontakt zur Erde während der Zeit der großen Krisen hatten sich hier neue Gesellschaftsformen und Kulturen entwickelt.
Ein kurzes Signal aus den Lautsprechern riss Ernest aus den Gedanken. Auf dem Display erschien die Landeerlaubnis zusammen mit der Bezeichnung des Gates und dem dazugehörigen Code, der automatisch ins Bordsystem übertragen wurde. Ernest brauchte nur noch die Bestätigungstaste zu drücken, worauf sich die Space Hopper automatisch in Bewegung setzte und die Landung einleitete.
»Na endlich! Wurde auch Zeit«, brummte er ärgerlich, lehnte sich zurück und beobachtete den Landevorgang.
2.
Nachdem das mehrere Jahrzehnte lang andauernde Terraforming abgeschlossen war, trafen vor dem Beginn der irdischen großen Krisen die ersten Siedler auf dem zweiten Planeten des TONGA-Systems ein. Sie landeten in der nördlichen Hemisphäre an der Westküste des einzigen Kontinents.
Ein mehrere Hundert Kilometer breiter Gürtel, der von einer Meeresströmung mit mildem Klima versorgt wurde, erstreckte sich die Küste entlang von Norden nach Süden, wo er in einen üppigen Urwald überging und jenseits des Äquators in einer Sandwüste endete, in der nur Hitze und Dürre herrschten. Südlich dieser Wüste existierte ein weiteres bewohnbares Gebiet, jedoch wesentlich kleiner als jenes im Norden.
Durch immerwährende gewaltige Stürme und Orkane war die Ostküste des Festlandes nicht bewohnbar. Zudem gab es im Innern des Kontinents ebenfalls nur Wüsten und Trockenheit.
Durch das Terraforming war es dem Planeten nicht möglich gewesen, in einem natürlichen Evolutionsprozess eigenes Leben hervorzubringen. Man hatte ihn zu schnell aus seinem Urzustand herausgeführt. Eine Fauna existierte daher nur im Anfangsstadium in Form von Insekten und Mikroorganismen, Letztere vorwiegend in Gewässern. Die Pflanzenwelt hingegen konnte sich in den gemäßigten Breitengraden schnell entwickeln und brachte, dank nahezu irdischen Verhältnissen bezüglich Klima und Luftzusammensetzung, mit einigen Ausnahmen ähnliche Gattungen hervor wie die Erde.
Die Kolonisten von TONGA-II stammten aus verschiedenen Ländern der Erde, setzten sich jedoch vorwiegend aus gesellschaftlichen Minderheiten, politisch Andersdenkenden oder ärmeren Schichten zusammen. Viele fühlten sich von Regierungen, Behörden, sozialen und kirchlichen Institutionen benachteiligt oder von Mitmenschen unterdrückt und verfolgt. Die Anzahl derer, die sogar abgeschoben worden waren, machte einen nicht unwesentlichen Anteil aus. Sie wussten denn auch einiges über die Machenschaften von Regierung und Behörden in ihren ehemaligen Heimatländern zu berichten.
Anhand dieser Berichte wurden Andersdenkende und Dissidenten als psychisch Kranke oder geistig Verwirrte eingestuft. Man setzte sie so lange verschiedenen Repressalien aus, bis sie irgendwelche Geständnisse ablegten und somit den Beweis für ihre „Geisteskrankheit“ erbrachten. Folter, die von Gesetzes wegen weltweit verboten war, durfte nun unter dem Deckmantel einer psychischen Behandlung eingesetzt werden. Auch medikamentöse Behandlungen, um die Patienten wieder auf den leuchtenden Weg geistiger Klarheit zurückzuführen, waren an der Tagesordnung.
Die anfänglich kleineren Siedlungen auf TONGA-II wuchsen durch den permanenten Zustrom weiterer Einwanderer schnell zu größeren Orten und Städten heran, sodass die irdische Kolonialverwaltung ihre Aufgabe sehr bald als erfüllt betrachtete und TONGA-II zu einer sich selbstverwalteten Kolonie ausrufen konnte.
Man gab dem Kolonialgebiet den Namen Tongalen und nannte die Hauptstadt Tongala.
Der Administrative Rat von Tongalen wurde von der Bevölkerung in regelmäßigen Abständen neu gewählt. Bisherige Amtsinhaber konnten wiedergewählt werden. Jeder Bürger hatte das Recht, sich für ein Amt zu bewerben.
Die politischen und gesellschaftlichen Strukturen wurden bewusst einfach gehalten. Verschiedene Ämter sorgten für das Funktionieren des öffentlichen Lebens und die Erfüllung sozialer Aufgaben. Die Wirtschaft diente ausschließlich der Selbstversorgung. Religionen und kirchliche Institutionen existierten offiziell keine.
So gedieh eine Gesellschaft ohne die dogmatischen und ausbeuterischen Strukturen, wie sie auf der Erde vielerorts noch herrschten oder bis vor kurzem noch geherrscht hatten, und mit denen die allerersten Einwanderer in ihrem alten Leben noch konfrontiert gewesen waren.
Das völlig andersartige Wertebewusstsein der Tongaler verhinderte die Entstehung jeglicher kapitalistischer Systeme. Nicht Masse und Besitztümer spielten im Leben die dominierende Rolle, sondern gesellschaftliche Integration, Kreativität und soziale Kompetenz. Kunst im kulturellen Sinn hatte in allen Situationen des Alltags großen Einfluss, besaß jedoch ausschließlich geistigen und metaphysischen Wert und stellte keinerlei wirtschaftliche Bedeutung dar.
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