Je nachdem, ob die Leser zu unserer Berufsgruppe gehören oder nicht, wird ihr Interesse an der Sache von unterschiedlicher Natur sein. Obwohl ich mich bemüht habe nicht allzu osteopathie-technisch zu schreiben, mögen Nicht-Osteopathen die Abschnitte über technische Aspekte vorzugsweise nur überfliegen. Der Rest wird sie dafür entschädigen.
NATURWISSENSCHAFTEN VS. GEISTIGES16
Insbesondere in den späteren Kapiteln könnten einige vielleicht zu der Auffassung gelangen, dass dieses Buch sich selbst ins Zentrum der Auseinandersetzungen zwischen den Naturwissenschaften und dem Geistigen stellt. Das ist aber nicht meine Absicht. Wenn überhaupt, so will es lediglich die Spaltung zwischen Szientismus und Philosophie beleuchten (reine Naturwissenschaft und Philosophie waren früher einmal durchaus miteinander verbunden), bzw. zwischen dem einerseits häufig engstirnigen Versuch, etwas als Faktum festzunageln, und andererseits den aus den Reisen in das Unbekannte geborenen tiefschürfenden Spekulationen. Hierbei sei angemerkt, dass Letzteres beiden Bereichen geläufig ist, also sowohl der ‚guten’ Naturwissenschaft als auch der Philosophie. Liegt hier überhaupt eine Dichotomie vor, so bezieht sich diese demnach auf das Bekannte und das Unbekannte. Eine der Botschaften dieses Buches ist, das für den Erfolg der Osteopathie beide Aspekte eine Rolle spielen – und zwar in gleichem Maß, aber auf unterschiedliche Art und Weise.
Vielen dürfte bekannt sein, dass die Naturwissenschaft und ihre Vertreter sich selbst an der Schwelle zu diesem Unbekannten verorten. Darin besteht letztlich ja auch ihre Aufgabe und dadurch gehören sie zu den kreativsten Geistern überhaupt. Die eigentlichen Probleme finden sich daher wohl eher in der Kultur der Naturwissenschaften (Szientismus) und ihrer engstirnigen Begrenzung durch Geister, für die nur Anerkennung findet, was bereits bewiesen wurde. Durch die rigide Anwendung dieser Denkausrichtung wurde die Heilkunst bedroht. Infolge der profunden Veränderungen innerhalb der Naturwissenschaften selbst, durch ihren enormen Paradigmenwechsel, verändert sich dieses Bild nun merklich. Für dessen Einzug ins allgemeine und medizinische Gedankengut bedarf es allerdings einiger Zeit, denn es handelt sich um einen schwierigen Prozess. Arthur Koestler schrieb, wenn Paradigmen zusammenbrächen, entsprängen aus diesem Chaos die Revolutionen in Naturwissenschaft und Wissen.17 Aus einem solchen Chaos entsteht jedoch viel Unsicherheit, was umgekehrt dazu führt, dass einige sehr negative und zerstörerische Debatten hervorgebracht werden. Aber diese Positionen trugen nur sehr wenig zur Weisheit oder Wahrheitsfindung bei. Obwohl der Empirismus zur Richtgröße wissenschaftlicher Methoden geworden ist, war er, seit Aristoteles18, verbunden mit einem auf der Erfahrung über die Sinne beruhenden Wissen, einer Verschmelzung sowohl der objektiven wie auch der subjektiven Vermögen.19
Was die besagte Dichotomie zwischen Naturwissenschaften und Geistigem betrifft (bzw. all jene, die auf ihr bestehen), so existiert diese – wenn überhaupt – nur in Bezug auf das Streben nach einem Verständnis der äußeren Realität. Die innere Welt in ihrer ganzen Tiefe ist eine Welt der subjektiven Erfahrung. Und hier kann uns die naturwissenschaftliche Analyse allenfalls begleitend unterstützen. Im Großen und Ganzen treibt die Menschen letztlich nicht ein Bedürfnis nach dem Wissen um Realitäten an; ihr Leben wird durch andere Impulse in Gang gehalten. Wie schon Wittgenstein20 feststellte: „Wir fühlen, dass selbst, wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind.“ 21
In seinem Buch Body Myths beschreibt der medizinische Anthropologe Cecil Helman: „In allen Gesellschaften leben die Menschen ein Leben in einem Meer aus Metaphern und Mythen, gesammelt aus unzähligen Quellen.“ 22Ananda Coomaraswamy23 schrieb, dass „Mythen die direkteste Annäherung an die absolute Wahrheit, die in dieser Welt ausgesagt werden kann, verkörpern.“ 24Die ‚Schöpfung‘ der Osteopathie beinhaltet in diesem Sinn die Destillation einiger großer Wahrheiten. Allerdings, und dies habe ich bereits mehrfach angedeutet, entziehen sich einige, wenn nicht sogar alle Wahrheiten einer vollständigen Analyse durch Beschreibung und Sprache. Wörter entstellen durch ihre damit in uns verbundenen dekontextualisierenden Vorstellungen und dies mag der Grund dafür gewesen sein, dass Einstein einmal bemerkte: „Ich denke häufig in Musik.“ Da ich allerdings nicht nach solchem Genie trachte und da ich weder malen noch dichten oder Streichquartette komponieren kann, muss dieses Werk ausreichen.
London, März 2013
Robert Lever, DO
Prinzipien
1. OSTEOPATHIE: EIN ÜBERBLICK
„Heilen, würde Papa mir sagen, ist keine Wissenschaft, sondern die intuitive Kunst die Natur zu umwerben.“ 25
In unserer beruflichen Position verbringen wir Osteopathen viel Zeit damit den Patienten bei der Suche nach Antworten zu helfen: Antworten , die einem bei Schmerzen oder anderen Symptomen, Erkrankungen und Leiden helfen sollen. Manchmal handelt es sich um ein rein palliatives Vorgehen, manchmal ist es auch Teil einer Suche nach besserer Gesundheit. Manchmal dient es als Weg, um ein tieferes Ringen anzusprechen, oder als Versuch, den Dingen eine tiefere Bedeutung oder einen Beweggrund zu geben. Und vielleicht hilft dies den Patienten ihre Probleme besser in den Griff zu bekommen, oder sogar ihr gesamtes Schicksal! Während die Suche nach Bedeutung und Kontrolle vielleicht die treibende Kraft hinter allen Bemühungen im Zusammenhang mit der Frage ist, was es ausmacht Mensch zu sein, ist das osteopathische Denken von struktureller Balance und Integrität und allem, was dies ermöglicht, geprägt. Und das Bemerkenswerteste bei diesem Denken ist das, was all diese Balance und Integration tatsächlich möglich macht , und das Potential zur Veränderung menschlicher Funktion und Erfahrung auf so vielen Ebenen. Ich hoffe aufrichtig, dass dieses Buch mithilft aufzuzeigen, warum all dies möglich ist, warum es auch in der täglichen Praxis geschieht, und vielleicht hilft es auch einen Teil jenes Prozesses zu beleuchten, der uns ermöglicht, es geschehen zu lassen.
Osteopathie oder osteopathische Medizin, wie sie manchmal genannt wird, ist eines der vielen Fenster zu einer erweiterten Bedeutungswelt. Ob ihr Ziel die Befreiung von Schmerzen oder ein Weg zu verbesserter Gesundheit ist, ein Mittel zur besseren Bewältigung einer Situation oder das Finden eines ziel- oder absichtsgerichteten Gefühls, jenes kostbare und endlose Streben, oder ob ihr Ziel dabei einfach einfach nur ist, Menschen zu helfen mit größerem Wohlbefinden in ihrer Haut zu leben; in jedem Fall ist Osteopathie als solche eine Form der Interpretation, d. h. einer von vielen Ansätzen, die sich der Verbesserung der Dinge verschrieben haben. Allerdings hat sie es über die Jahre auch geschafft, sich eine ganze Reihe stereotyper und falscher Vorstellungen anzueignen. Dies gilt in Bezug auf das, was Osteopathie eigentlich ist, was sie behauptet zu bewirken. Stellt sie ihr Potential ehrlich dar, wird sie häufig als anmaßend, überambitioniert und sogar arrogant wahrgenommen. Einer der Gründe hierfür liegt darin, dass ihre Methoden und ihre theoretischen Grundlagen im gleichen Kontext wie eine hochentwickelte medizinische Erfahrung und Technologie, die allerdings in einem völlig anderen kulturellen Kontext steht, betrachtet wird. Osteopathie und die reguläre Medizin mögen vielleicht annähernd gleiche Ziele haben – Heilung herbeizuführen –, aber in ihren Konzepten sind sie so unterschiedlich wie Malen und Musik. Osteopathie entstand ursprünglich einerseits als geradezu revolutionäre Reaktion und andererseits als Alternative zur regulären Medizin. Aber vor allem war es eine neue Art des Sehens; ein Konzept von Gesundheit und Krankheit, das nach einer neuen Art und Weise der Behandlung von Patienten rief. In der Tat, ihre Methoden hatten sich der Lokalisierung, der Verbesserung und dem Ausdruck von Gesundheit im Patienten verschrieben, statt sich mit Krankheit per se zu konfrontieren.
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