Aber für all diese atemberaubenden Schönheiten hat Otto heute keinen rechten Blick mehr. Zum einen muss er unwillkürlich an sein letztes Treffen mit seiner Ayşe denken. Ganz wohlig ums Herz wird ihm dabei. Obwohl er in einer geheimen Mission für sein Vaterland unterwegs ist, hat er ihr davon berichtet. Schließlich musste er ihr ja sagen, dass er sie für längere Zeit nicht besuchen könne. Wirkliche Bedenken hat Otto immer noch nicht, denn er vertraut ihr vollends. Zudem hat er ihr zusätzlich noch das Versprechen abgenommen, mit niemandem, aber auch wirklich mit niemandem darüber zu sprechen. Als Ayşe ihn mit ihren dunklen Augen anblickte und das Versprechen wiederholte, da wusste er, sie wird keiner Menschenseele auch nur ein Sterbenswörtchen davon erzählen.
Zufrieden und verträumt wandern Ottos Blicke zum Bahnhof von Haidarpaşa, dessen Silhouette sich im morgendlichen Dunst auf dem asiatischen Kontinent abzeichnet. Vor nunmehr etwas mehr als zehn Jahren hatte sein heutiger Chef, Botschafter von Hohenstein, die Konzession für den Bau eines Bahnhofs im asiatischen Teil Konstantinopels als Ausgangspunkt für die Bagdadbahn unterzeichnet. Vorbei geht es nun an der langen Kaianlage mit zwei großen Lagerschuppen und einem Getreidespeicher. Die drei Laufkräne sind gerade dabei Dampfer zu be- und entladen.
Erst vor ein paar Monaten, Ende letzten Jahres, ist der Bahnhof eingeweiht worden. Die Bauarbeiten gestalteten sich schwieriger als gedacht, denn bei den notwendigen Aufschüttungsarbeiten hatte man zu wenig Platz für das Gebäude gelassen. Und wenn, dann sollte es auch schon repräsentativ sein. Also rammte man eintausendeinhundert Pfähle aus einundzwanzig Meter langen wasserfesten Eichenstämmen unter dem Wasser in die Erde.
Da der Bahnhof fast direkt an der Kaimauer errichtet worden war, verfügt er kaum über einen Vorplatz. Aber das, so Otto, macht überhaupt nichts, denn so wird die Wuchtigkeit des Gebäudes noch deutlicher. Die deutschen Architekten hielten sich nicht an die landesüblichen Formen, sondern erbauten ihn, und darauf ist nicht nur Otto besonders stolz, ganz im wilhelminischen Geiste im neoklassizistischen Stil. So gleicht das Bauwerk eher einem norddeutschen Rathaus als einem Bahnhof im Osmanischen Reich. Preußen im Orient. Das entspricht auch Ottos Vorstellungen.
Als das Boot an der Kaimauer anlegt, steigt Otto von Wesenheim schwungvoll aus und richtet seinen Blick auf die Uhr des Bahnhofs, übrigens eines der ganz wenigen Gebäude mit einer Uhr in dieser Riesenstadt. Zu seiner Erleichterung stellt Otto fest, dass er den Zug ohne Hektik rechtzeitig erreichen würde. Der Zug wartet bereits unter Dampf im Bahnhof. Pünktlich um acht Uhr morgens soll es losgehen.
Auf dem Bahnhof ist es vorbei mit der Ruhe des frühen Morgens. Überall laufen schwatzende und lärmende Männer herum; dazwischen schleppen die Lastträger das Gepäck; Offiziere gehen plaudernd auf und ab. Die mitreisenden Frauen werden von ihren Männern in die überfüllte Haremlık der dritten Klasse hineingedrängt, wo sie sich schreiend und zankend einen Platz suchen müssen, während sie selber zweiter oder gar erster Klasse reisen.
Otto kann die charakteristischen Rufe der Simitverkäufer vernehmen. Diese Sesamkringel sind äußerst beliebt und werden gern zu jeder Tages- und Nachtzeit verzehrt. Um Garküchen herum stehen Menschentrauben, um gegrillte Hackfleischbällchen und geröstetes Hühnchen mit etwas Gemüse und Fladenbrot schmatzend zu verspeisen oder es sich als Wegzehrung einpacken zu lassen. Daneben schlängeln sich die Wasser- und Teeverkäufer durch die Massen hindurch, um ihr köstliches Nass an den Mann und die Frau zu bringen. Danach ist es an der Zeit, sich den Lokumverkäufern zuzuwenden. Pakete von Lokum werden entweder als Nachtisch oder für unterwegs gekauft. Aber die meisten Käufer können nicht an sich halten und öffnen das Paket sofort, um sich wenigstens ein oder zwei grüne Lokum herauszuholen, die sie sich mit einem Grinsen im Gesicht in den Mund schieben.
Ottos Diener Ali verstaut das Gepäck seines Herrn in dem komfortablen Abteil der ersten Klasse und begibt sich dann in die dritte Klasse. Der Zug ist ziemlich lang, macht durchaus einen feudalen Eindruck, auch ein paar Güterwagen fahren mit. Einer davon ist voller Rekruten, die ihren Dienst irgendwo im anatolischen Hochland antreten sollen oder vielleicht auch im fernen Dschidda?
Dann ist es auch schon fast so weit. Da sieht er aus dem Augenwinkel, dass noch eine Dame mit eiligen Schritten und leicht hochgerafftem Rock an seinem Abteil vorbeischreitet. Diese rötlichen Haare und die Silhouette, irgendwie kommen sie Otto bekannt vor. Hat er sie schon einmal gesehen? Und wenn ja, wo war das bloß? Doch schnell vergehen ihm die Gedanken, denn jetzt ist es tatsächlich so weit. Abfahrt! Langsam setzt sich der Zug, gezogen von einer Lokomotive von Kraus Maffei aus München, in Bewegung. Klirrend und ratternd sucht er sich seinen Weg.
Und nun taucht Otto von Wesenheim ein in eine andere Welt, erlebt sein ganz persönliches orientalisches Abenteuer. Zunächst geht es auf die dreihunderteinunddreißig Kilometer lange Strecke nach Eskişehir. Laut Fahrplan dauert die Reise zehn Stunden und fünfunddreißig Minuten. An den Vorstädten Konstantinopels vorbei windet sich der Zug Richtung Izmit mit prächtigem Ausblick auf die Prinzeninseln, das Marmara-Meer und die vorgelagerten Bergketten. Der Zug mit Otto von Wesenheim nimmt einen uralten Weg.
Kreuzritter zogen hier auf ihrem Weg ins Heilige Land vorbei, Karawanen, Händler und Krieger bewegten sich auf ihm entlang. Die Strecke von Konstantinopel nach Izmit war begehrt und umkämpft, eine geschichtliche Hauptstraße sozusagen. Konstantin der Große liegt in Izmit begraben.
Immer wieder fährt der Zug an den neu errichteten, ziegelgedeckten weißen Stationshäuschen vorbei, deren Namensschilder mit arabischen Schriftzeichen versehen und auch auf Französisch geschrieben sind, der zweiten Amtssprache im Osmanischen Reich. Pah, so Otto, warum nicht auf Deutsch? Das muss geändert werden. Und er macht sich eine Notiz. Aber immerhin grüßen die Bahnbeamten in Uniform teilweise schon nach deutscher Art.
Der Bau der Bahnstrecke ist eine Meisterleistung deutscher Ingenieurskunst und deutscher Baufirmen wie Philipp Holzmann. Erhebliche Schwierigkeiten mussten überwunden werden. Aus der Ebene steigt die Bahnlinie durch schroffes Felsgebirge auf eine Höhe von bis zu knapp neunhundert Metern an, um dann die anatolische Hochebene zu erreichen. Neben umfangreichen Flusskorrekturen und Uferschutzbauten wurden etliche Tunnel und eine große Anzahl von Brücken und Viadukten errichtet.
Bis vor kurzem machten auch noch Räuberbanden und Wegelagerer schon kurz hinter Haidarpaşa den Reisenden zu schaffen. Aber nachdem auf Drängen von Hohensteins Militärpatrouillen die Gegend sichern, hat sich die Lage deutlich entspannt. Noch vor geraumer Zeit verkehrten die Züge der Bagdadbahn aus Sicherheitsgründen nur tagsüber, was die Fahrtzeit natürlich erheblich verlängerte.
Schon bald entwickelt sich die Landschaft zu einer wilden Großartigkeit. Es geht entlang an tiefen Schluchten längs eines schäumenden Flusses, durch bewaldete Berge hindurch, aus deren Grün kahle Felsen aufragen. Dazwischen fruchtbares Land mit Feigen und Getreide.
Dann fährt der Zug durch ein enges Tal mit zahlreichen bizarren Schluchten, gewaltige Felsmauern ragen bis zu dreihundert Meter senkrecht auf und lassen gerade Platz für die Bahntrasse. Unwillkürlich weckt dieser Anblick in Otto Karl-May-Fantasien. Auch exakt hier zogen die Kreuzfahrer vorbei und noch mehr: Dies ist zudem die alte Seidenstraße, jener berühmte Handelsweg, auf dem Marco Polo über Konya nach Bagdad und weiter nach China reiste. Otto auf seinen Spuren, jedenfalls ein bisschen.
Die Bahn mit ihren schwankenden Waggons nimmt den Anstieg auf das siebenhundert bis achthundert Meter hohe Plateau und über Brücken und durch Tunnel erreicht Otto Eskişehir. Mit nur wenig Verspätung trifft der Zug am Eisenbahnknotenpunkt ein. Von hier kann man entweder nach Konya oder nach Angora fahren. Später sollte dieser Ort Ankara heißen und die Hauptstadt der Türkei werden. Jetzt aber ist er ein verschlafenes Nest mitten im anatolischen Hochland. Otto war noch nie in Angora und hat das auch nicht vor. Was soll er dort auch?
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