Wenn es solche Gerüchte geben sollte, dann müssen sie sich auf etwas anderes beziehen, denn von diesem Brief weiß nur der verstorbene Hermann von Darius und nun er, Otto. Von etwaigen Gerüchten hat er auch deshalb nichts mitbekommen, weil er in den letzten Wochen wegen der vielen Arbeit kaum aus der Botschaft herausgekommen ist. Außer natürlich während seiner kleinen Abstecher zu Ayşe. Schwärmerische Erinnerungen machen sich breit. Einen Moment verliert er sich in seinen Gedanken. Doch dann holt ihn die Realität wieder ein.
»Otto, es war mir eine Freude, Sie kennengelernt zu haben. Wir haben ein anregendes Gespräch geführt und die Zeit ist wie ein Wimpernschlag vergangen. Nochmals ganz herzlichen Dank, dass ich Sie in Ihrem Abteil aufsuchen durfte. Bevor wir nun Burgulu erreichen, erlauben Sie mir, dass ich mich zurückziehe und mich frisch mache. Ich hoffe sehr, dass das nicht unser letztes Zusammentreffen gewesen sein wird.«
»Auch für mich war es eine große Ehre und ein großes Vergnügen, mit Ihnen gesprochen zu haben, teuerste Margaret. Auch ich freue mich auf ein Wiedersehen mit Ihnen. Bitte richten Sie meine besten Grüße an Franz von Koppental aus und kommen Sie sicher und gesund nach Tal-Halaf«, erwidert Otto.
Mit einer leichten Verbeugung und einem vollendeten Handkuss verabschiedet er sich von Margaret, die schwungvoll das Abteil verlässt.
Wie recht zumindest Margaret mit ihrem Wunsch haben sollte, weiß Otto zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Auf dem Weg zu ihrem Abteil denkt Margaret, Dschidda, wie interessant. Da passt doch einiges zusammen. Im Sonderauftrag Seiner Hoheit des Sultans. Ha, ha, wer soll das denn glauben? Sie, Margaret, jedenfalls nicht. Ein sehr aufschlussreiches Gespräch. Sie hat genug gehört. Dann muss sie heute Nacht jedenfalls nicht aktiv werden und ihre Wege können sich erst einmal trennen. Gut so.
Als der Zug endlich in der Bahnhofsstation von Burgulu zum Stehen kommt, bleibt Otto noch einige Zeit in seinem Abteil. Sollen doch erst einmal die anderen Reisenden sich drängen und aussteigen. Als er die Menschentraube auf dem Bahnsteig fast gedankenversunken betrachtet, bleibt sein Blick an einer Frau haften. Sie wiederum schaut mit leicht geneigtem Kopf und einem dezenten Lächeln im Gesicht in Richtung seines Abteils. Als sie sieht, dass Otto zu ihr hinüberschaut, hebt sie ihren rechten Arm und winkt ihm mit ihrer Hand fast unauffällig zu. Ottos Blick bleibt fasziniert an ihrem Gesicht hängen und er meint ein »Auf Wiedersehen« auf ihren Lippen ablesen zu können. Wie gerne doch, Margret, formuliert er in seinen Gedanken. Nach einigen Sekunden gibt er sich einen Ruck, steht auf und verlässt als letzter den Zug, während auf dem Bahnsteig sein Diener Ali schon mit dem Gepäck geduldig wartet.
Die umfangreichen und schwierigen Tunnelbauten durch das über dreitausend Meter hohe Taurus- und Amanusgebirge erweisen sich bisher als ein kaum zu überwindendes Hindernis für die Ingenieure. Also geht es für die Reisenden, die sich den Strapazen dieser Landschaft aussetzen müssen, am nächsten Morgen mit Wagen, Ochsen und Maultieren weiter.
Selbst um diese Jahreszeit kann Otto auf den Gipfeln des Taurus noch Schneereste entdecken. Tagelang schleppt sich Ottos Karawane mühselig über schmale Passstraßen durch die Gebirgslandschaft, immer auf und nieder, stundenlange Ritte auf den Maultieren. Wie auch für die meisten der Mitreisenden ist es auch für Otto von Wesenheim ungewohnt, auf Maultieren zu reiten. Schon nach kurzer Zeit schmerzt sein Hinterteil und er hat fast überall Muskelkater. Allerdings lassen sich die Maultiere ohne Probleme führen und suchen sich fast immer selber den richtigen Weg.
Schließlich zieht die Karawane über die Kilikische Pforte, die trotz einiger Verbreiterungen immer noch der enge Pfad geblieben ist, über den seit Jahrtausenden eroberungssüchtige Heere gezogen sind. Darunter natürlich auch das Heer von Alexander dem Großen. Nur nach unten gucken darf Otto von Wesenheim nicht, denn ihm würde sonst schwindlig werden. Auf seiner rechten Seite geht es steil nach unten in karstige Schluchten. Wenn man abstürzt, gibt es keine Rettung. Doch daran will Otto nicht denken.
Von der wilden Schönheit der Landschaft bekommt Otto von Wesenheim kaum etwas mit. Fast wie in einem Traum und in Trance erlebt Otto die strapaziöse Reise. Dabei greift er von Zeit zu Zeit immer wieder in die Innentasche seines Anzugs und vergewissert sich, dass der Brief nicht verloren gegangen ist. Die Neugier auf des Rätsels Lösung lässt ihn die Strapazen ohne allzu großes Wehklagen ertragen, bis er endlich in Damaskus ankommt.
Die weitere Etappe von Damaskus nach Medina kann Otto wieder mit dem Zug bestreiten. Aber auch diese Strecke hat es in sich. Bis zur Endstation Medina sind über eintausenddreihundert Kilometer in ungefähr fünfundfünfzig Stunden zu bewältigen. Immerhin ist die Bahn eine wesentliche Erleichterung. Erst 1908 und zwar genau am 1. September, dem Jahrestag der Thronbesteigung von Sultan Abdülhamid II., konnte die Bahnlinie in Medina feierlich eingeweiht werden. Acht Jahre dauerte der mühselige Bau.
Natürlich, sagt sich Otto mit Genugtuung, konnte der Sultan keinen anderen als einen deutschen Ingenieur, nämlich Meißner Pascha, damit betrauen. Mit Grauen denkt Otto an die Zeit vor der Fertigstellung der Strecke. Zwischen vierzig und fünfzig Tage dauerte damals die Reise in einer Kamelkarawane nach Medina und Mekka. Heutzutage unvorstellbar.
Frühmorgens geht es zum Bahnhof El-Kadem in Damaskus. Schon von weitem kann Otto erkennen, dass er mit Wallfahrern auf Reisen gehen wird. Die eigentliche Wallfahrt, die »Hadsch«, orientiert sich am islamischen Kalender und findet nur einmal im Jahr statt. Hier handelt es sich vielmehr um die »Umra«, quasi einen Besuch, der sich auf die Gebetsstätte in Mekka beschränkt und zu jeder beliebigen Jahreszeit unternommen werden kann. In großer Zahl stehen Freunde, Verwandte und Nachbarn am Bahnsteig, um die Wallfahrer zu verabschieden. Gepäckstücke und Proviant werden in die Waggons gereicht. Bauchladenverkäufer mit Zigaretten und Zigarren preisen ihre Waren vor den Fenstern der Waggons an. Noch schnell ein letztes Geschäft machen.
In dieses Gewirr und Gewusel hinein ertönt plötzlich ein Glockenton. Er verkündet die Abfahrt. Die Türen knallen zu. Die grün gestrichene Dampflokomotive aus der Fabrik von Richard Hartmann aus Chemnitz zischt und prustet; dann gibt es einen Ruck, der Zug setzt sich gemächlich in Bewegung und rollt langsam aus dem Bahnhof hinaus. Begleitet wird er von winkenden und jubelnden Kindern. Eine ganze Weile rennen sie neben dem Zug her, bis sie schließlich ermüden und zurückbleiben. Hinter der Lokomotive ist ein Güterwaggon mit aufmontiertem Wassertank angehängt. Ein Hinweis darauf, was den Zugreisenden auf der langen Wegstrecke erwartet: eine wasserlose raue Gegend. Anschließend kommen weitere Niederbordgüterwagen ohne Bänke und ohne Dach für die Masse der Pilger. Am Zugende laufen drei geschlossene Wagen für das Begleitpersonal, die betuchteren Reisenden und die Fracht; Waggons aus der Gothaer Maschinen- und Waggonfabrik.
Mit Gepolter geht es über Weichen, vorbei an dem rußigen Bahndepot mit Kohlenhaufen und Wasserkränen. Allmählich steigert sich der Lärm der Räder auf den Schienen zu einem laut hallenden Dröhnen. Rauchgeruch dringt unangenehm ins Abteil. Im grellen Sonnenlicht schiebt sich der Zug vorbei an kleinen Bahnstationen. Während der gesamten Fahrt wird der Zug nur eine durchschnittliche Reisegeschwindigkeit von fünfundzwanzig Kilometer in der Stunde erreichen.
Die Reisenden haben sich schnell miteinander bekannt gemacht und beginnen zu schwatzen. Einer liest mit halblauter Stimme den Koran, ein anderer, und das ist Otto, schaut unentwegt fasziniert auf die vorbeiziehende Landschaft.
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