Schon bald beginnt die Sonne erbarmungslos zu brennen. Mit Hilfe von Stangen und Decken versucht man in den offenen Waggons provisorische Sonnendächer zu errichten, während der Zug ruckelnd Kilometer um Kilometer gen Süden zurücklegt. Über Deraa, wo die Zweigstrecke nach Haifa ans Mittelmeer abgeht, geht es nach Amman und schließlich erreicht er nach Mitternacht Maan, vierhundertachtundfünfzig Kilometer von Damaskus entfernt.
Sobald der Zug im Bahnhof eingefahren ist, stürzen die Reisenden aus den Waggons, um sich die Beine zu vertreten und ihre Notdurft zu verrichten. Auch Otto ist froh, aussteigen zu können, und schlendert den Bahnsteig entlang. Er sieht, wie sich Gruppen von Reisenden gemeinsam neben den Gleisen niederlassen, um ihr Gebet nach Mekka hin gewandt zu sprechen.
Aus der Nachbarschaft strömen Einheimische herbei, um Erfrischungen, Fladenbrot, verschiedene Sorten Datteln, Zitronen und saure Milch anzubieten. Das Zugpersonal klopft währenddessen die Radlager ab und kontrolliert die Bremsen. Die Lokomotive fasst neues Wasser.
Plötzlich gibt es einen Ruck und der gesamte Zug macht eine stoßartige Bewegung nach vorne. Otto ist erschrocken. Hat er das Abfahrtssignal überhört? Fährt der Zug etwa ohne ihn weiter? Nein, zum Glück nicht. Es werden nur weitere Niederbordgüterwagen angekoppelt. Anschließend marschiert ein Trupp osmanischer Soldaten heran, die sich mit Marschgepäck und Waffen auf die Wagen verteilen.
Eine Routineangelegenheit oder gibt es Hinweise auf eine drohende Gefahr?, fragt sich Otto noch, als er einen Glockenton hört, das Zeichen zur Abfahrt. Er ist recht froh, dass es weitergeht, denn die Nacht im eintausenddreihundert Meter hoch gelegenen Maan ist ausgesprochen kalt. Otto begibt sich wieder in sein Abteil. Er sitzt noch gar nicht ganz, da setzt sich der Zug auch schon ruckelnd Richtung Medina in Bewegung. Man fährt die ganze Nacht hindurch.
Wieder schaut Otto aus dem Fenster, mittlerweile seine Lieblingsbeschäftigung. Unter dem sternenübersäten Nachthimmel kann er die trockene Steinwüste mit ihren seltsam gestalteten Felsformationen und die zahlreichen ausgetrockneten Wadis erkennen, die eine nicht zu unterschätzende Gefahr darstellen. Nach heftigen Regenfällen verwandeln sie sich in reißende Ströme, die einen Bahndamm mit Leichtigkeit wegzureißen vermögen. Auch deshalb hat Meißner Pascha auf der gesamten Strecke über eintausendfünfhundert sogenannte technische Kunstbauten wie Brücken, Durchlässe und Tunnel errichten lassen.
Ganz so angenehm wie Otto haben es die Wallfahrer in ihren offenen Waggons nicht. Mit Überwürfen und Decken versuchen sie sich, so gut es geht, gegen die empfindlich kalte Nachtluft zu schützen. Gegen Morgen wird an einer kleinen Station gehalten, damit der Zug Wasser aufnehmen kann und die Gläubigen ihr Morgengebet sprechen können.
Schon bald weicht die Kälte der Nacht wieder der erbarmungslosen Hitze des Tages. Fünfundfünfzig Grad Celsius wird das Thermometer bald anzeigen! Der Himmel ist strahlendblau, verziert mit ein paar Schönwetterwolken. Die Sonne sticht brutal, noch brutaler als vor ein paar Minuten.
Und dann sieht er sie, diese armen Kerle. Ein Trupp von Arbeitssoldaten ohne spezielle Arbeitskleidung bessert das Gleiswerk aus. Nur in weißen Leinenanzügen mit einer Kufiya, einem arabischen Kopftuch, auf dem Kopf sind sie der glühend heißen Sonne ausgesetzt. Bis auf zwei Stunden in der Mittagshitze schuften sie von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang fünf Tage die Woche. Am Donnerstag, üblicherweise der Waschtag, ist frei und am Freitag, dem »türkischen Sonntag«, auch. Sie führen ein entbehrungsreiches und körperlich anstrengendes Leben. Zu beneiden sind sie wirklich nicht.
Wie ein nach Luft schnappender Fisch lehnt sich Otto immer wieder aus dem Fenster, um sich abzukühlen. Das hält aber nicht lange vor. Unerklärlicherweise beginnt er kurz darauf zu frieren. Bei dieser Hitze. Und dann diese Kopfschmerzen, urplötzlich. Merkwürdig, denkt er sich. Etwas erschöpft fühlt er sich schon. Hat er sich etwa eine Erkältung zu gezogen? Das fehlt ihm gerade noch.
Doch dann schaut er wieder voller Faszination auf die vorbeiziehende Wüstenlandschaft hinaus. Kann er seinen Augen trauen? Auf dem Wüstenboden zeichnen sich große Wasserflächen ab, die ihre Form aber verändern, wenn sich der Zug ihnen nähert oder an ihnen vorbeifährt. Schließlich zerfließen sie ganz. Es sind nur Luftspiegelungen. Davon hat Otto schon mehrfach gehört, es aber nicht so recht glauben können.
Dann sieht er grüne Flächen in der Ferne. Schon wieder Luftspiegelungen? Nein, man nähert sich der Oase Tabuk, sechshundertzweiundneunzig Kilometer von Damaskus entfernt. Hier gibt es eine Eisenbahnstation mit Lokomotivschuppen, Wasser- und Bekohlungsanlage. Zudem finden die Reisenden eine Moschee und ein Krankenhaus vor.
In Tabuk erfolgt eine etwas längere Rast, bevor man die Reise in der Gluthitze fortsetzt. Die Bahnstrecke steigt nun bergan und man durchquert einen einhundertsechzig Meter langen Tunnel. Danach geht es kurvenreich durch von Sandsteinbergen eingerahmte Täler, bis man endlich nach neunhundertachtundfünfzig Kilometern in die Station Mada’in Saleh einfährt.
Mit der Palmenoase Al-Ula ist die Grenze für Nichtmuslime erreicht. Von hier an liegen Leitung und Betrieb der Hedschasbahn vollständig in muslimischen Händen. Alle fünfundneunzig Stationen an der Strecke sind nach einem Muster gebaut. Sie ähneln eher einer Festung als einer Bahnstation und sind mehr als Reparatur- und Wachstation gedacht und nicht als Bahnhof.
Auf einem quadratischen Grundriss steht ein rotbrauner, zweistöckiger Sandsteinquaderbau mit vier Räumen und einem zentralen Innenhof für die Mannschaften. Zahlreiche Fenster, die wie Schießscharten aussehen, sind in das Mauerwerk eingelassen. Über dem Eingang erkennt man eine Sandsteintafel mit dem Stationsnamen und das Jahr der Errichtung. Hier nun verlassen die Soldaten den Zug und lösen die Wachmannschaft ab. Müde, mit schmutzigen und mehr oder weniger gut geflickten Uniformen trotten die abgelösten Soldaten, einige von ihnen sogar barfuß, zu den bereitstehenden Waggons und steigen ein. Ein Gefühl der Sicherheit will bei ihrem Anblick nicht so recht aufkommen. Aber was soll’s, sagt sich Otto. Bisher ist ja alles gut gegangen und nun steht die letzte Etappe bevor.
Als offizieller Gelehrter des Orients verfügt Otto von Wesenheim über eine Sondererlaubnis, von Seiner Hoheit dem Sultan-Kalifen Mehmed V. persönlich signiert. Aber etwas mulmig ist ihm schon. Wird man hier im weit entfernten Randgebiet seines Herrschaftsbereichs diese auch anerkennen? Tatsächlich, Otto darf in seinem Abteil bleiben und erleben, wie man wieder durch die ausgetrocknete Steinwüste mit ihren Felsenbergen fährt. Zweihundertfünfzig Kilometer bis Medina, also nur noch zehn bis zwölf Stunden Fahrt!
Bald ist es soweit und die elende Zugfahrt hat ein Ende, spricht ein erschöpfter Wesenheim zu sich selbst. Gemächlich fährt der Zug durch die Wüstenlandschaft. Plötzlich spürt Wesenheim eine gewisse Unruhe aufkommen. Gleichzeitig verlangsamt der Zug seine Fahrt. Was ist los? Als er aus seinem Fenster hinausschaut, sieht er eine große Staubwolke auf sich zukommen. Unruhe macht sich im gesamten Zug breit. Die Staubwolke kommt immer näher. Otto meint in ihr Umrisse von Gestalten auf Kamelen zu erkennen.
Ein langgezogener Pfeifton ertönt und die ersten Reisenden fangen an zu schreien. Auch Otto ergreift eine gewisse Panik. Sind das Beduinen, vor denen man ihn schon in Konstantinopel gewarnt hat? Raue und unbarmherzige Gesellen sollen das sein. Sie erkennen keine Autorität an, selbst nicht die des Sultan-Kalifen. Nur ihren Stammesältesten fühlen sie sich verpflichtet. Immer wieder attackieren sie die Züge der Hedschasbahn, plündern sie aus, töten und verletzen die Reisenden, manchmal, so heißt es, nehmen sie auch Geisel. Nur gegen viel Geld lassen die Beduinen sie wieder frei; zumindest die Glücklicheren von ihnen. Andere verschwinden in der Wüste und tauchen nie wieder auf.
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