Inka Claussen - Tödlicher Orient

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Konstantinopel 1910. Die Geschichte eines mysteriösen Rätsels nimmt ihren Anfang. Die Spur führt in einen Orient mit zwei Gesichtern – einen magischen und einen tödlichen. Was mit einem Diplomaten vor einhundert Jahren im Osmanischen Reich beginnt und einem deutschen Auslandslehrer im saudi-arabischen Dschidda zum Verhängnis wird, reißt eine unbedarfte junge Frau im heutigen Istanbul in den Strudel dramatischer Ereignisse. Auf drei Zeitebenen erfahren die jeweiligen Protagonisten das, was die Welt des Orients ausmacht: Sinnlichkeit und Liebe, Exotik und Glück, aber auch Verzweiflung und Tod.

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Volker Schult

Bernhard Siever

Inka Claussen

TÖDLICHER

ORIENT

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2016

Bibliografische Information durch die

Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.deabrufbar.

Copyright (2016) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte bei den Autoren

Titelillustration © jozefklopacka

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2016

PROLOG

Vor vielen Jahren

Erschöpft, taumelnd, panisch und blutüberströmt erreicht der Bote das Zentrum der Stadt. Seine Worte schallen durch die Gassen. Erschreckt, ungläubig und mit offenen Mündern lauschen die Menschen seiner furchtbaren Botschaft. Sie können und wollen es nicht glauben. Und das, obwohl das in der Ferne zu hörende dumpfe Donnern der Kanonen seine Worte dramatisch untermauert.

»Ihre Banner wehen schon auf unseren Türmen. Zu Tausenden kommen sie durch die Lücke in der Stadtmauer. Oh weh! Wir sind verloren!«, schreit der Bote mit atemloser Stimme.

»Sie machen alle nieder, die sich ihnen in den Weg stellen. Alle! Sie nehmen keine Rücksicht auf Alte, Kranke, Frauen oder Kinder. Rette sich wer kann! Das sind blutrünstige Barbaren! Womit haben wir so ein Schicksal nur verdient?«, stammelt die Gestalt und bricht nach diesen Worten mit bleichem Gesicht und vor Schreck aufgerissenen Augen zusammen.

Als die beiden Schwarzgewandeten die Schreie des blutüberströmten Boten hören, wissen sie im Gegensatz zu den meisten Menschen, die die Bedeutung der Worte nicht erkennen oder wahr haben wollen: Die Stadt ist verloren. Eher ungläubig blicken die Menschen den Boten an. Viele verschwinden in ihren Häusern, verstecken sich in Kellern oder Zisternen, andere irren in vollkommener Verwirrung durch die Gassen, um irgendwann gefangengenommen oder getötet zu werden. Die meisten aber gehen in die zahlreichen heiligen Stätten der Stadt, um zu beten. Der Allmächtige wird sie nicht im Stich lassen. Eine Prozession von Männern und Frauen setzt sich Richtung Schrein des Heiligen in Bewegung, um den herum die Kerzen am frühen Morgen brennen. Mit sich tragen sie die traditionellen Opfergaben. Es ist ein seit Jahrhunderten sorgsam gepflegtes Ritual. Sie glauben an die wundersame Kraft des Gebetes.

Die beiden Schwarzgewandeten aber wissen, was zu tun ist. Es sind rund fünf Kilometer von den äußeren Mauern der Stadt bis in das Zentrum. Eile ist geboten. Als Wächter des heiligen Schatzes ist es ihre Pflicht, ihn vor den Angreifern zu retten. Sie schauen sich an und eilen entschlossenen Schrittes los. Am Zielort angekommen, blicken sie ihn mit großem Respekt an, knien nieder und fangen an, eine Litanei vor sich her zu murmeln. Kaum verständliche Worte sind zu vernehmen: »Soll nie ein Andersgläubiger berühren …«, meint man zu hören, oder auch: »Verflucht seien die, die das versuchen …« Dann stehen sie auf, nehmen den Schatz an sich, einer versteckt ihn unter dem schwarzen Gewand und eilen davon. In der heiligsten aller heiligen Stätten kennen sie sich gut aus. Dort gibt es geheimnisvolle Wege, von denen nur wenige wissen. Da müssen sie hin, rechtzeitig vor den Barbaren.

Behände machen sie sich auf den Weg. Panik hat mittlerweile um sich gegriffen. Die Menschen schreien, rennen, versuchen zu fliehen. Nur wohin? Einige versuchen die im Hafen ankernden Schiffe zu erreichen, andere durch eines der vielen Tore aus der Stadt zu entkommen. Doch wohin? Der Feind ist überall. Er kommt von allen Seiten.

Ungeachtet der hin- und herlaufenden Menschen bahnen sich die beiden Schwarzgewandeten den Weg durch die Masse. Schon können sie die heiligste der heiligen Stätten erkennen. Gleich haben sie es geschafft. Verschwitzt und erschöpft, denn so viel körperliche Anstrengung sind sie sonst nicht gewohnt, mobilisieren sie ihre letzten Kraftreserven.

Doch dann kommen die Angreifer auf die beiden zu. Plötzlich, ganz unvermittelt, sind sie da. Beritten, mit hasserfüllten Gesichtern. Wild schwenken sie ihre blutigen Säbel. Das ist das Ende. Es gibt kein gnädiges Entkommen. Schon sausen ihre Säbel auf die beiden Schwarzgewandeten nieder. Die Hiebe sind gewaltig, mit voller Wucht ausgeführt. Blutüberströmt fallen die Fliehenden der Länge nach auf die Straße. Eine Blutlache breitet sich um die beiden herum aus. Der halbe abgeschlagene Kopf landet schließlich einen Meter entfernt neben dem Torso. Aus der Halsschlagader des anderen pumpt noch sekundenlang das Blut schwallartig heraus. Kein besonderes Vorkommnis an diesem Tag.

Mit vor Entsetzen geweiteten Augen hat eine Frau das Gemetzel hinter der leicht geöffneten Haustür beobachtet. Wie paralysiert steht sie da, völlig unfähig sich zu bewegen. Dann fällt ihr Blick auf das, was dem einen Schwarzgewandeten aus seinem Umhang gefallen ist. Noch einmal blickt sie auf den Gegenstand. Kann das wahr sein? Ist das zu glauben? Das ist ja … Ein weiterer Blick auf den Gegenstand holt sie in die Gegenwart zurück.

Sie kommt zu sich und schaut erst nach rechts, dann nach links. Gut. Keine Gefahr im Moment. Keine fremden Reiter oder Kämpfer, kein blutiger Säbel, der sie töten könnte. Schnell, ohne weiter nachzudenken, rennt sie auf die Straße, kann den Gegenstand gerade noch rechtzeitig von der Straße aufheben bevor er mit dem vielen Blut in Berührung kommt. Was soll sie nur tun?

Unfähig sich zu bewegen, vergisst sie alles um sich herum. Wohin kann sie in den Tumulten, die sie in der Nähe hört, noch gehen? Scheinbar minutenlang verharrt sie so. Da kommt ihr eine Idee. Es gibt nur eine Möglichkeit, ihn vor diesen Barbaren zu verstecken. Rasch macht sie sich auf den Weg.

In der heiligsten Stätte haben sich zahlreiche Menschen versammelt. Sie glauben an die alte Prophezeiung, dass ein Eindringling nur bis zur großen Säule vor der heiligsten Stätte gelangen würde. Dann würde ein himmlisches Wesen mit einem Schwert in der Hand herabsteigen und den Verteidigern die Kraft geben, die eindringenden Feinde zu vertreiben. Alle schweren, mit Bronze verkleideten Holztüren sind verschlossen. Die Gläubigen haben derweil ihre gewohnten Plätze eingenommen. Die Frauen haben sich auf der Galerie versammelt. Die Männer sitzen unten. Andere sind wohl nicht ganz so zuversichtlich und haben sich in die entlegenen Nischen des riesigen Gebäudes oder hinauf auf die Empore oder das Dach begeben. Alle aber beten um ein Wunder Gottes.

Auch sie hat ihren Platz gefunden. Niemand achtet auf die Wölbung unter ihrem Kleid, die sie mit ihren Händen fest umklammert. Die anderen in der Menge machen vor der scheinbar Schwangeren Platz. Von Natur aus neugierig hat sie vor einiger Zeit während einer längeren Prozession immer wieder Geistliche mal hinter einem Gemäuer verschwinden sehen, obwohl es dort offensichtlich keine Tür gibt. Dann hat sie es gewagt, sich während der nächsten Prozession unentdeckt davonzuschleichen und die Geistlichen beobachtet. Schon lange machten unter der Bevölkerung mysteriöse Gerüchte die Runde, dass es geheime Gänge in der heiligen Stätte geben solle. Doch niemand weiß, ob das wahr ist und wohin sie führen. Aber sie hat sie mit eigenen Augen gesehen.

Plötzlich schrickt sie wie alle anderen zusammen. Schwere Axthiebe gegen die Haupttür sind zu hören. Vor der heiligsten Stätte steht eine johlende Menge und wartet nur darauf einzudringen. Nach weiteren Axthieben gibt die zehn Zentimeter dicke Tür nach und zersplittert. Es zwängen wild aussehende Gestalten mit gezogenen Säbeln in das Innere der heiligsten Stätte. Die Gläubigen schreien voller Panik und flehen ihren Gott um Hilfe an. Vergebens. Die ersten, die sich den Eindringlingen in den Weg stellen, werden auf der Stelle niedergemacht. Doch ein allgemeines Blutbad bleibt aus. Stattdessen wollen die Eindringlinge die Schätze plündern und menschliche Beute für die Sklaverei machen.

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