Schnell hat der Alltag den Legationsrat Otto von Wesenheim wieder und er denkt nicht mehr an das seltsame Schreiben und das Tagebuch.
Knapp zwei Monate später soll sich sein Leben ändern und zwar für immer. An jenem Tag wird Otto von Wesenheim zu seinem Chef, dem mächtigen und auch gefürchteten Botschafter Seiner Majestät Wilhelms II. im Osmanischen Reich, Ernst Freiherr von Hohenstein, gerufen.
Von Hohenstein ist nun schon seit dreizehn Jahren Botschafter Seiner Majestät am Hofe des Sultans. Zuvor war er sieben Jahre lang Staatssekretär im Auswärtigen Amt. Er verfügt über ausgezeichnete Kontakte zum kaiserlichen Hof in Berlin wie auch zu Seiner Majestät persönlich. Das wusste auch Sultan Abdülhamid II. und das weiß auch die jetzige Regierung der Jungtürken. Hohensteins Worte haben Gewicht.
»Wesenheim, Seine Majestät haben geruht, mir aufzutragen, zu erkunden, wie es um die Lage an den äußeren Grenzen des Osmanischen Reiches bestellt ist. Seine Majestät planen, eine neue Militärmission nach Konstantinopel zu entsenden. Dazu bedarf es genauerer Informationen über den militärischen Zustand des Reiches und zwar auch in den Randgebieten. Wie Sie wissen, stehen auch die Heiligen Stätten von Mekka und Medina unter dem Schutz des Sultan-Kalifen. Wie ist die militärisch-politische Lage in diesem für die Moslems in aller Welt so außerordentlich bedeutenden Gebiet einzuschätzen?
Mit dieser äußerst wichtigen, aber zugleich delikaten Aufgabe betraue ich Sie, Herr Legationsrat. Zugleich ist es Ihre Aufgabe herauszufinden, wie es um die neue Hedjasbahn, als Zweigstelle unserer Bagdadbahn, bestellt ist. Ist sie im Fall der Fälle geeignet, militärische Verstärkungen in die gefährdeten Gebiete um die Heiligen Stätten zu schaffen?
Die Bahnlinie ist bis nach Medina fertiggestellt. Von da begeben Sie sich per Karawane nach Dschidda, wo es eine türkische Garnison gibt. Dort wartet unser Kontaktmann, der Kaufmann und Honorarkonsul Heinrich Voss auf Sie. Er ist vorab informiert worden und wird alles für Sie vorbereiten. Explorieren Sie in geeigneter Weise die dortigen militärischen Zustände und berichten Sie anschließend mir immediat.
Wesenheim, Ihnen ist hoffentlich klar, dass Sie sich nicht exponieren mögen als offizieller Repräsentant Seiner Majestät. Auch wenn Seine Majestät sich in unnachahmlicher Weise Anno 1898 in Damaskus zum Schutzherrn der dreihundert Millionen Mohammedaner ausgerufen hat, soll Ihre Reise in keinerlei Weise Anlass für Misstrauen bieten. Wie Sie das anstellen, ist Ihre Sache. Noch Fragen, Wesenheim?«
»Nein, Eure Exzellenz. Eure Exzellenz können sich ganz auf mich verlassen.«
Eigentlich, denkt Wesenheim, verspüre ich gar keine rechte Lust, das doch sehr angenehme Leben hier in Konstantinopel gegen die Strapazen einer solchen Reise in den Orient für einige Zeit aufzugeben. Besonders ruft er sich dabei die kleine unauffällige Wohnung in der dunklen Seitengasse in Tarlabaşe, wo er in gewissen Abständen die Nacht verbringt, in Erinnerung. Dabei muss er unwillkürlich an Ayşe denken, wie sie sich so gekonnt und verführerisch ihres Schleiers entledigt, ihn dann mit ihren schwarzen Augen anschaut und anschließend …
Aber weiter will Otto seine Gedanken nicht fortführen. Schließlich hat er einen Auftrag für Seine Majestät zu erfüllen. Nur das zählt jetzt. Je länger er darüber nachdenkt, desto mehr gefällt ihm der Auftrag. Eigentlich wollte er schon immer mit der Bagdadbahn fahren. Schließlich ist sie ein besonderes Projekt Seiner Majestät und eine Meisterleistung deutscher Ingenieurskunst. Warum sich also nicht im wahrsten Sinne des Wortes auf die Spuren der deutschen Weltpolitik im Orient begeben?
Und dann ist da doch noch etwas. Plötzlich erinnert sich Otto an diesen mysteriösen Brief, den er bei dem Erdbeben vor zwei Monaten beim toten Kanzler von Darius gefunden hat. War der Absender nicht jemand in Dschidda? Ein Mustafa, wie hieß er noch gleich? Na ja, vielleicht kann er sich etwas umhören, wenn er schon vor Ort ist.
Einige Tage später, an einem frühen Freitagmorgen, besteigt Otto – er wird sich als Gelehrter, als Orientalist aus dem Deutschen Reich ausgeben – ein kleines Ruderboot, das ihn von Kabataş über den Bosporus hinüber zum Bahnhof nach Haidarpaşa bringen soll. Sein Diener Ali, der mit Otto reist, hat schon seinen Koffer in das Boot verfrachtet.
Begleitet vom kreischenden Lachen der großen städtischen gelbbeinigen Mittelmeermöwen setzt sich das Boot in Bewegung und mit schnellen Ruderschlägen nähert es sich dem Bahnhof von Haidarpaşa. An Backbord geht es vorbei an Skutari, der größten der Vorstädte auf dem asiatischen Kontinent. Im frühen Morgenlicht glänzen die schönen Moscheen und die im leichten Dunst liegenden Höhen, auf denen sich der große moslemische Friedhof mit seinen zahlreichen Zypressen befindet. Dazwischen tauchen immer wieder Wohnviertel auf, deren Straßen gesäumt von Laubbäumen sich bis an das Ufer hinziehen.
Nur wenige Meter entfernt gleitet das Boot an einem dreißig Meter hohen Turm entlang, der zwischen Asien und Europa mitten im Bosporus herausragt und Kız Kulesi, Mädchenturm, genannt wird. Es ranken sich schöne Legenden um diesen Turm, wie sich Otto erinnert. Eine besagt, dass der Vater einer osmanischen Prinzessin sie dort vor dem vorhergesagten Biss einer Giftschlange in Sicherheit bringen wollte. Aber alle Vorkehrungen nützten nichts, denn die Prinzessin wurde schließlich durch eine Viper, die mit einem Obstkorb auf die Turminsel gelangte, gebissen und starb.
Die mythologische Überlieferung von Leander und Hero besagt, dass Leander jede Nacht zur Turminsel hinüberschwamm, um seine Geliebte Hero, eine Priesterin der Göttin Artemis, zu besuchen. Eines Nachts aber ertrank Leander in sturmgepeitschter See. Aus Trauer stürzte sich Hero von ihrem Turm ebenfalls ins Meer. Für diejenigen, die an diese Version glauben, ragt dort der Leanderturm empor.
Eine davon wird wohl wahr sein, denkt sich Otto. Entscheiden will er sich aber nicht. Da wird sein Blick auch schon steuerbords, also zu seiner Rechten, gefangen von der traumhaft schönen, malerischen Silhouette der Serailspitze mit dem Topkapı-Palast und dem ehemaligen Harem. Zu diesem Panorama gesellt sich eine ungeheure doppelte Terrasse von Häusern, Moscheen, Bazars, Serails, Bädern und Kiosken, die in verschiedensten Farben schimmern. Dazwischen streben zahlreiche Minarette mit glänzenden Spitzen gleich riesigen Elfenbeinsäulen dem Himmel entgegen und grüne Zypressenwäldchen senken sich in dunklen Streifen von den Höhen zur See.
Still und festtäglich liegt Konstantinopel an einem Freitag da. Für Europäer ist es immer noch ungewohnt, dass der Freitag der Ruhe- und Hauptgebetstag im moslemischen Morgenland ist und nicht der Sonntag wie im christlichen Abendland.
Vom Wasser aus ist sie nicht zu übersehen: Hoch aufragend auf der höchsten Höhe von Stambul, als Krone der Siebenhügelstadt, die Hagia Sophia, nach dem Petersdom zu Rom die glänzendste jemals von der Christenheit erbaute Kirche. Zur Rechten ragt der imposante Komplex der Osmanischen Schuldenverwaltung heraus. Ihre gewaltige Silhouette mit den drei Türmen dominiert den gesamten Stadtteil Cağaloğlu. Das Gebäude ist eher ein Dorn im Auge der Osmanen, denn von hier aus verwalten Europäer die immensen Auslandsschulden und ziehen im gesamten Reich Steuern bis runter nach Dschidda ein. Eine immense Schande für die stolzen Osmanen. Otto muss bei diesen Gedanken schmunzeln. Sollen sie sich eben nicht so verschulden. Durch ihre ausgeprägte Korruption sind sie dann nicht in der Lage die Kredite zurückzuzahlen. Selber schuld. Orientalen eben durch und durch!
Hinter sich lässt Otto auch die weite Flussmündung des Goldenen Horns mit ihrer von deutschen Ingenieuren entwickelten Eisenbrücke auf Pontons, fünfundzwanzig Meter breit, die die beiden Stadtteile Stambul und Pera miteinander verbindet. Noch vor wenigen Jahren überspannte eine alte, aber exotische Pontonbrücke das Goldene Horn, die von aneinandergebundenen Holzbooten getragen wurde. Dort gingen damals Händler, Fischer und Garküchenbetreiber ihren Geschäften nach und dichte Trauben von vorbeiziehenden Menschen deckten sich bei ihnen mit dem Nötigsten ein. Zu jeder Tages- und Nachtzeit waren Scharen von Anglern anzutreffen. Aber um dem gestiegenen Fußgänger – und Fahrzeugverkehr gerecht zu werden, erhielt 1907 die Maschinenfabrik Augsburg-Nürnberg den Zuschlag für den Neubau einer Brücke. Wegen der politischen Turbulenzen durch den jungtürkischen Staatsstreich konnte man erst vor kurzem mit den Arbeiten beginnen. Das dauert bestimmt noch zwei weitere Jahre, bis die Brücke endlich fertig sein wird, denkt Otto.
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