Es scheint die Übersetzung des Schreibens zu sein. Schon beim ersten Überfliegen wird ihm klar, dass es sich um einen Kaufvertrag mit einer hohen Summe, eine sehr hohe Summe handelt. Zehntausend Türkische Pfund! Das sind ja, rechnet Otto schnell im Kopf um, einhundertachtzigtausend Mark! Nach heutigem Maßstab knapp eine Million Euro, doch das weiß Otto natürlich nicht. Ihm fällt spontan der Vergleich mit dem Jahreseinkommen eines Kommandierenden Generals der kaiserlich-deutschen Armee ein, weit mehr als das Zehnfache! Purer Wahnsinn!
Und dann dieser seltsame Schluss. Rätselhaft. Noch einmal liest Otto den Kaufvertrag. Diesmal jedoch genauer. Er legt den Brief auf seinen Tisch und blickt nachdenklich aus dem Fenster. Er schüttelt den Kopf. Worin ist der von Darius – Gott habe ihn selig – nur verstrickt gewesen? Was hat der allseits als knauserig bekannte von Darius für diese hohe Summe nur gekauft?, fragt sich Otto kopfschüttelnd. Noch einmal liest er den seltsamen Hinweis, der wie ein Rätsel anmutet:
Beide Parteien verpflichten sich zur strengsten Geheimhaltung der folgenden Angaben: Der verkaufte Gegenstand befindet sich in der Nähe der heiligen Stätte der Mohammedaner, unweit von Abwässern und unter dem A. Pascha Herrenhaus.
Sehr ungewöhnlich für einen Kaufvertrag. Und dann noch dieser Satz ganz am Ende:
Wenn weitere Dienste benötigt werden, wird jeder Familienzweig von Mustafa Satıcı, sei es in Konstantinopel oder Dschidda, bei der ihr heiligen Familienehre demjenigen, der dieses Dokument vorlegt, jetzt und in Zukunft jede erdenkliche Gefälligkeit beim Auffinden des verkauften Wertstücks gewähren.
Dschidda, denkt von Wesenheim, das ist doch irgendwo in Arabien, oder? Ja, am Roten Meer, wenn er sich recht erinnert. Irgend so ein Wüstennest. Ein Außenposten am Rande des Osmanischen Reichs. Dort, wo man den Namen des Sultans kaum kennen dürfte.
Otto von Wesenheims Neugierde ist geweckt und sein nächster Gedanke ist eigentlich naheliegend. Vielleicht gibt es weitere Hinweise in von Darius Wohnung, die sich ebenfalls im zweiten Stock der Botschaft befindet. Sie sind, nein, korrigiert sich Otto, waren quasi Nachbarn. Deshalb hat er auch einen Schlüssel zur Dienstwohnung des verunglückten Kanzlers.
Mit leisen Schritten und unbeobachtet gelingt es Otto in die Wohnung zu kommen. Er schaut sich um. Ja, so kannten wir von Darius auch von der Arbeit. Immer alles sauber geordnet und korrekt aufgeräumt. Wonach suche ich eigentlich?, fragt sich Otto und blickt sich um. Am besten fange ich mit dem Sekretär an. Als ordentlicher Mensch hat Darius dort bestimmt seine Papiere deponiert. Neben den üblichen Schreibutensilien befindet sich nichts Ungewöhnliches auf dem Tisch. Alle Schubladen sind unverschlossen. Schnell schaut Otto die dort liegenden Papier und Sachen durch. Nichts! Verdammt noch mal! Enttäuscht schiebt er die unterste Schublade auf der linken Seite wieder hinein und entschließt sich zu gehen.
Da bemerken seine Finger noch eine weitere Schublade, die aber kleiner und nach hinten verlagert ist, sodass man sie gar nicht richtig sehen kann. Otto bückt sich und versucht sie herauszuziehen. Es geht nicht. Entweder ist sie verschlossen oder aber sie klemmt. Vergeblich sieht er sich nach irgendwelchen Schlüsseln um. Dann schlägt er gegen die Schublade, aber zu viel Lärm darf er auch nicht machen. Wenn ihn jemand erwischt wie er in den privaten Räumlichkeiten des Verstorbenen wühlt, dann aber gute Nacht. Er will schon gehen, weil ihn der Gedanke, entdeckt zu werden, immer nervöser macht. Da unternimmt er intuitiv noch einen letzten Versuch. Noch einmal kniet Otto vor dem Sekretär und fühlt mit seinen Fingern unter die Schubladen. Auf der linken Seite nichts, rechts auch nichts. Oder doch?
War da nicht eine kleine Unebenheit unter der letzten Schublade rechts unten? Er legt sich ganz auf den Boden, sieht unter die Schublade und erkennt einen angeklebten kleinen Schlüssel. Ottos Adrenalin schießt in die Höhe. Das muss er sein! Mit leicht zitternden Händen nimmt er den Schlüssel und versucht ihn in das Schloss der kleinen Schublade zu stecken. Nein, das gibt es doch nicht! Er passt nicht! Otto, ruhig bleiben, sagt er zu sich selbst. Noch einmal versuchen. Vor allem richtig herum muss der Schlüssel ins Schloss. Dann die Erleichterung. Es funktioniert doch. Langsam schließt er die Schublade auf und zieht sie hervor. Was ist drinnen?
Anscheinend nur ein Buch. Was für eine Enttäuschung! Aber es ist kein Titel aufgedruckt. Also öffnet Otto das Buch. Nach einem ersten schnellen Durchblättern ist es Otto klar: Das ist das private Tagebuch des von Darius. Otto nimmt es an sich und blickt verstohlen erst nach rechts und dann nach links. Aber natürlich ist niemand hier. Wie ein gemeiner Dieb, der er nun ja auch ist, stiehlt er sich aus der Wohnung und kehrt auf leisen Sohlen in sein Reich zurück.
Zurück in seinen Zimmern schenkt Otto sich zur Beruhigung der Nerven erst einmal einen doppelten Brandy ein. Das Brennen in der Kehle tut richtig gut. Öffnen oder nicht öffnen? Ottos Neugierde siegt dann recht schnell über seine moralischen Vorbehalte in dem Privattagebuch eines Verstorbenen unbefugt zu lesen und damit gewissermaßen in dessen Intimsphäre einzudringen.
Von Darius’ Tagebucheinträge beginnen mit seinem Dienstantritt am 1. Oktober 1902. Zum Herbststellenwechsel wurde er nach Konstantinopel versetzt. Ottos Neugierde schlägt allmählich in Enttäuschung um. Nichts Interessantes zu lesen, ein paar private Gedanken, Kommentare zu dienstlichen Vorgängen und Berichte über das Wetter. Ungeduldig blättert Otto die zahlreichen Seiten durch.
Schon ist er im Jahr 1908 angelangt, als sich die Jungtürken gegen die Herrschaft des Sultans durchsetzten und ihre Revolution starteten. Und noch eine Seite blättert Otto um. Da stockt er. Zurück. Da war doch was.
Hier unter dem 3. September endlich ein Hinweis. Darius berichtet unter diesem Datum von schon seit Jahren in bestimmten Kreisen umlaufenden Gerüchten, dass eine altehrwürdige, aus byzantinischer Zeit stammende Kostbarkeit, die als verschollen galt, doch noch erhalten sein soll. Das muss von Darius’ Interesse geweckt haben. Fortan gibt es immer wieder in unregelmäßigen Abständen Eintragungen über diese Geschichte in seinem Tagebuch. Fast schon detektivisch hat sich von Darius der Sache angenommen. In den letzten Monaten vor seinem tragischen Tod verdichteten sich die Gerüchte. Von Darius ging einem Hinweis nach, dass ein ehrenwerter Kaufmann konkrete Informationen über die verschollen geglaubte Kostbarkeit habe, er aber sehr viel Geld dafür verlange, zu viel, viel zu viel für einen Kanzler der kaiserlichen Botschaft.
Darius’ Enttäuschung ist anhand seiner Eintragungen im Tagebuch nachzuvollziehen. Doch dann nahm das Schicksal, das ihm später einen endgültigen Streich spielen sollte, zunächst einen positiven Verlauf. Aus seinen Einträgen geht hervor, dass er für ihn völlig überraschend gegen Ende des Jahres 1909 von einem entfernten kinderlosen Großonkel, der sein Geld an der Börse gemacht hatte, eine Erbschaft in ungeahnter Höhe erhielt. Wie elektrisiert agierte Darius in den nächsten Wochen, bis er dann unter dem 28. April, also nur wenige Tage vor seinem Tod, eintrug: »Endlich geschafft. Kaufmann getroffen, handelseinig geworden. Ein hübsches Sümmchen Geld hingeblättert für ein Rätsel. Ist es mir aber wert. Jetzt wird gesucht. Volle Kraft voraus!«
So enthusiastisch hat Otto den eigentlich eher nüchtern-sachlichen Kanzler von Darius noch nicht erlebt, weder im wirklichen Leben noch in seinem Tagebuch. Das muss ihn wirklich bewegt haben. Otto holt das Schreiben hervor, das er vom toten Darius genommen hat. Jetzt will er alles in Ruhe noch einmal lesen und über die Sache nachdenken.
Da unterbrechen laute Stimmen seine Gedanken. Die Pflicht eines Legationsrats in der kaiserlich-deutschen Botschaft ruft wieder. Hastig schiebt er den Brief in den Umschlag und steckt ihn in das erstbeste Buch, das er aus seinem Regal nimmt, Charles Morawitz’ Buch »Les finances de la Turquie«. Dahinter deponiert er die gefundenen Aufzeichnungen.
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