Neuerliche Stille, dann fragt Emily in normalem Gesprächston: »Wo ist die Krankenpflegerin?«
»Ich habe sie nach Hause geschickt. Du bist nicht krank, und jetzt bin ja ich da.« David geht zum Nachtschränkchen, angelt sich die Medikamente. »Ich werde dieses Scheißzeug ins Klo spülen.« Er tut es, ohne dass sie aufmuckt. »Hör mir zu, Emily. Ich wiederhole, du bist nicht krank. Du bist jung, reich, gesund und ein Glückspilz. Jetzt zieh dir was über, es ist noch frisch und wir frühstücken auf der Terrasse.«
Die Terrasse thront auf einem felsigen Steilhang, der bis zum Meer hinabfällt. Hinter den Pinien, die an dem Abhang wachsen, die Bucht von Villefranche, das Meer, die offene See. Während David sich in der Küche zu schaffen macht, betrachtet Emily die Brandung ein paar Dutzend Meter tiefer. Er hat recht. Wie konnte ich mich so gehen lassen? Pieri wurde ermordet … Ich dagegen bin am Leben, ich werde mich nicht kleinkriegen lassen. Atme, finde deinen Rhythmus.
Als er Rührei, Toast, Fromage blanc und heißen Tee bringt, macht sie sich mit gesundem Appetit darüber her. Er schaut ihr lächelnd zu. »Ich wusste es.«
Sie hebt den Blick von ihrem Teller. »Hast du schon mal erlebt, wie jemand zu deinen Füßen eines gewaltsamen Todes stirbt?«
»Das fragst du mich, Emily? Hast du vergessen, dass ich 1966 als Freiwilliger zur Armee gegangen bin? Seitdem habe ich in einem Krieg gekämpft und bei Operationen zur Aufrechterhaltung der Ordnung mitgewirkt …«
»Nein, das habe ich nicht vergessen, aber ich habe nie verstanden, warum du dich verpflichtet hast. Und ich habe es dir übelgenommen.«
»Ich habe mich verpflichtet, einen Tag nachdem der Alte mir eröffnet hat, dass er dich mit Frickx verheiratet. Falls du das nicht kapiert hast, er hat es sehr wohl kapiert, ohne dass ich es ihm hätte erklären müssen.«
Emily beugt sich vor, mustert ihn, zögert. Das Gespräch gerät auf schlüpfriges Gelände, das weiß sie. In der morgendlichen Stille zwischen Felsen, Pinien und Meer steigen Erinnerungsfetzen an die Oberfläche. Cousin und Cousine, unzertrennlich. Frühmorgens Reittraining auf dem Gestüt ihres Großvaters in Durban. Der Rausch eines schnellen Galopps, unsere Pferde Flanke an Flanke, ein wortloses Glück, dann in den Pool, wir ließen uns in der Sonne treiben, die Körper erschöpft vom wilden Ritt. Sie entdeckt sein Gesicht neu. Kantig, glatt, unergründlich. Weniger Wangenpolster, oder irre ich mich? Die gleiche blonde Haarsträhne auf der Stirn, die goldbraunen Augen. Die festen, vollen Lippen. Sie erinnert sich, wie sie ihre Handrücken streiften, David hatte die Angewohnheit, in einer Art Parodie französischer Höflichkeit ihre Hände zu küssen, wenn sie sich in der ersten Dämmerung im warmen Dunkel der Ställe trafen, erfüllt mit dem Geruch der Pferde, ihrem vertrauten Atem, und sie erschauerte, lachte verwirrt. Unzertrennlich … Sie hat das seltsame Gefühl, dass dieses Kapitel noch nicht zu Ende geschrieben ist.
Sie schenkt ihm eine Tasse Tee ein. Die Kanne zittert in ihrer Hand, als sie sagt: »Du warst in mich verliebt?«
»Ich war irrsinnig verliebt, und du wusstest das genau.«
»Ja und nein.«
»Wie, ja und nein?«
»Ich wusste, dass du verliebt warst, aber ich wusste nicht, was dieses Wort bedeuten sollte, und ich weiß es bis heute nicht.« Sie lässt sich in ihren Sessel sinken. »Verstehst du, heute, in dieser Stunde, im Angesicht dieses Meeres, dieses Himmels, dieser Felsen, nach dem Tod von Maxime Pieri und in Anwesenheit meines Cousins, spreche ich zum ersten Mal mit Nachdruck aus, dass ich das Leben mit Michael nicht länger ertrage. Ich habe meine Pflicht ihm gegenüber erfüllt, ich bürge für seine Präsenz in der Familie Weinstein und ihrer Minengesellschaft. Er dagegen hat seine nicht erfüllt. Ich habe ihn geheiratet, um in New York zu leben, er sperrt mich in Mailand ein, das ich nicht ausstehen kann. Es ist aus, ich verlasse ihn.«
»Michael ist ein Genie auf seinem Gebiet. Super erfinderisch, keinerlei Skrupel, Chuzpe ohne Ende, waghalsig, wenn nötig, aber nie so weit, dass er seinen klaren Kopf verliert, ich wette, er wird in den nächsten Jahren ein überragender Trader werden. Er ist ein potenzieller Multimilliardär.«
»Das ist mir vollkommen egal.« Sie grübelt einen Moment vor sich hin. »Hat er dich gebeten, herzukommen?«
»Ja.«
»Er kennt dich praktisch nicht, er hat dich gerade ein- oder zweimal getroffen, aber er weiß, dass wir früher sehr eng miteinander waren und dass ich in geschwächter Verfassung bin. Er pfercht uns zusammen hier ein. Ich frage mich, was er sich dabei denkt.«
David sagt nichts dazu.
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