Dominique Manotti - Madoffs Traum

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Wer hat Angst vor Bernie Madoff? Dies ist die Erzählung des US-amerikanischen Wirtschaftsverbrechers Bernard Madoff, der bei einer Fehlspekulation etliche Prominente um Millionen brachte und dafür zu 150 Jahren Haft verurteilt wurde. Bernie Madoff betrachtet sich als Pionier der New Economy. Vom Gefängnis aus blickt er zurück, erzählt unbefangen von seinen Überzeugungen und seinem Werdegang. Wir begegnen hier einem der berüchtigten »Wall Street-Wölfe«, erhalten Einblick in seine Denkweise, seine Abenteuerlust, seine Erfolge – und die durch Reagans wirtschaftliche Freibriefe in den 1980er Jahren kräftig geschürte Goldgräberstimmung in der amerikanischen Bankerszene. Madoff, von der US-Presse zum Monster erklärt und 2009 vor Gericht schuldig gesprochen, sieht sich keineswegs als Übeltäter. Er ist vielmehr überzeugt, Opfer einer Hexenverbrennung geworden zu sein: Das System sucht sich einen Sündenbock, damit dann alles so weitergehen kann wie bisher … Dominique Manotti zaubert aus Madoffs fiktiven Memoiren ein erhellendes Lehrstück über Börsenmakler, Finanzprodukte, Spekulationsbetrug, Pyramidengeschäfte und Hedgefonds. Denn Manottis Madoff schwadroniert und doziert, reuelos und selbstgefällig, aber keineswegs ohne Geschichtsbewusstsein. Manotti selbst sagt über diese Novelle, die sie für ihren besten Text hält: »Am Anfang stand eine Riesenwut gegen das Einheitsdenken. In ausnahmslos allen Zeitungen bedauerte man Madoffs unglückliche Opfer – lauter geldgierige Superreiche, von denen sich die meisten längst die Taschen gefüllt hatten. Ich ging ins Internet und stieß auf eine Fülle an aufschlussreichen Dokumenten, die sich kein Journalist besorgt hatte. Als ich mit Recherchieren fertig war, floss der Text wie von selbst. Wenn ich je einem Werk nahe gekommen bin, in dem kein Wort zu viel ist, dann bei diesem. Kurz, schlicht, leicht: Es ist purer Plot, ein reiner Pfeil, eine Skizze.«

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Dominique Manotti

Madoffs Traum

Novelle

Deutsch von Iris Konopik

Literaturbibliothek

Argument · Ariadne

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel Dominique Manotti Madoffs Traum Novelle Deutsch von Iris Konopik Literaturbibliothek Argument · Ariadne

I

II

III

IV

Helden

Weitere Bücher

Impressum

I

Ich sitze auf einer Steinbank in der prallen Sonne. Ein schöner Sommertag. Der Stein ist warm. Der Garten vor mir ist gut gepflegt. Der Rasen gemäht, gewässert, schnurgerade Buschreihen, alle identisch. In der Mitte ein Baum, zu einer Kugel beschnitten. Was für einer? Keine Ahnung. Ich bin ein Mann der Städte, des Betons und Asphalts. Von Bäumen verstehe ich nichts. Und der hier soll mich bis zu meinem Tod begleiten. Unerträglicher Gedanke.

Ich schließe die Augen und stehle mich davon. Ich träume. Wie ich es mein Leben lang getan habe. Wie es alle Amerikaner tun, sagt man. Zweifellos ein bisschen intensiver als die meisten meiner Mitbürger, zweifellos in größerem Stil.

Meine Kindheit in einer griesgrauen Familie hat mir wenig Erinnerungen hinterlassen. Die Schule ödete mich an und schien mir reine Zeitverschwendung. Ich ging so selten wie möglich hin. Hatte es eilig, diese Phase geheuchelter Ausbildung hinter mich zu bringen. Ich wollte aufsteigen, mich durchsetzen, gesehen, bewundert, geschätzt werden. Die einzige greifbare Möglichkeit war, viel Geld zu verdienen. Weil Geld die erste, die unmittelbarste Form des amerikanischen Traums ist, der einzige Wert, der einhellig von allen anerkannt und respektiert wird, der Nerv Amerikas. Weil ich an dem, was ich verdiene, mit Gewissheit erkenne, was ich wert bin. Ich kann mich mit meinem Nachbarn messen, und niemand kann meinen Wert bezweifeln. Ein Dollar wird immer ein Dollar sein.

Aber wie es angehen, wo beginnen, wenn man ein mittelloser junger Mann ist? Die ersten Sprossen der Leiter, die ersten Millionen sind am schwersten einzunehmen. Später, wenn man weit oben angelangt ist, macht man einen ganzen Roman daraus, man erzählt: Ich habe mit nichts angefangen, ich habe mein Geld Groschen für Groschen verdient, im Schweiße meines Angesichts. Ich allerdings war pragmatisch, realistisch, ich glaubte nicht an diese Märchen, außerdem hatte ich es eilig. Auf meine Familie konnte ich nicht zählen, ich war kein Erbe, und ich wollte keine Zeit verlieren. Also bin ich sehr jung in den Stand der Ehe getreten. Ich habe meinen Schwiegervater geheiratet. Mit seinem Geld und seinem Adressbuch habe ich meine eigene Wertpapierfirma gegründet. Ich war 22 Jahre alt und hatte keine genaue Vorstellung, wie ich es angehen sollte, das große Geld zu machen.

Das Abenteuer hat bescheiden begonnen. Börsenmakler, das war in den Sechzigerjahren keine Goldgrube. Uns Unbekannte hielt man von den großen Börsen fern, die gut abgeschirmt vor sich hin surrten. Die Indizes stiegen langsam und gleichmäßig, keine Blasen, keine Krisen, also keine Gelegenheiten für schwindelerregende Gewinne, eine Kundschaft von Rentiers. In meiner Firma arbeiteten wir eingepfercht zu dritt, in einer brütenden Atmosphäre. Die wichtigen Partien wurden anderswo gespielt, in den Industriekonzernen, den Ölgesellschaften, von all denen, die materielle Güter produzierten und ihre Gewinne in die Produktion reinvestierten, fernab meines beengten Büros. Hin und wieder griffen uns zwei Angestellte meines Schwiegervaters unter die Arme. Sie waren genauso jung wie ich, genauso motiviert, genauso hungrig, Jäger, die stets auf die kleinste Gelegenheit, das geringste Zeichen lauerten, Augen und Ohren weit offen und Messer zwischen den Zähnen. Wir haben einander ziemlich bald erkannt und uns zusammengetan, mit dem festen Vorsatz, unsere Chance gründlich zu nutzen, sobald sie sich bot. Wir mussten nicht lange darauf warten.

Es war die Zeit der allerersten Computer. Eine komplexe Technologie, von der niemand ahnte, dass sie die Weltwirtschaft revolutionieren würde. Wir verstanden nichts davon, wir interessierten uns nicht sonderlich dafür, wir hatten keinen Sinn für Technik. Bis ein Ingenieur, der sich im Finanzgeschäft auskannte, Anfang der Sechzigerjahre ein Gerät erfand, das, angeschlossen an einen Computer und ein Telefonnetz, in Echtzeit und fortlaufend automatisch alle Kurse an den amerikanischen und bald auch weltweiten Börsen ausgab. Wir begriffen sofort: Damit blieb der Börsenbetrieb nicht länger in der Hand einer kleinen Gruppe von Spezialisten, die die Information monopolisierten. Ab jetzt war sie frei verfügbar für alle, die sie nutzen wollten. Mit einem Schlag umfasste unser Horizont die Dimensionen der großen weiten Welt. Instinktiv erkannten wir: Mit den neuen Geräten würden die Börsen in einen anderen Gang schalten, würden in die Ära der Hochgeschwindigkeit, der Unmittelbarkeit eintreten. Schluss mit den Rentiers. Eine andere Welt war im Werden, die Welt der Pokerspieler. Wir haben tief Luft geholt, unsere Lungen mit dem Zeitgeist gefüllt und losgelegt, sicher, dass dies unsere Chance war, und wild entschlossen, sie zu ergreifen.

Wir waren die Ersten, die ohne Rücksicht auf die Kosten ihre Büros mit diesen neuen Geräten ausstatteten, und stürzten uns in die Arbeit. Eine überwältigende Arbeit. Es hieß in immer leistungsfähigere Rechner investieren, deren Rentabilität völlig unwägbar war. Wir taten es. Und da die Computer uns die Welt öffneten, beschlossen wir, komplett auf die neue Ökonomie zu setzen. Es hieß Schritt halten mit allen Neuerungen der Technologie, die in atemberaubendem Rhythmus aufeinander folgten. Wir taten es. Es hieß ein Netzwerk innovationsfreudiger Unternehmen aufbauen. Wir machten uns auf die Suche nach Ingenieuren, Erfindern, verrückten Träumern, nach allen, die begierig waren, ihre eigene Firma zu gründen, ohne zu wissen, wie das gehen sollte. Von den etablierten großen Industrie- und Finanzunternehmen hatten sie nichts zu erwarten, die schauten sie nur an wie Marsmenschen und scheuten das Risiko. Wir trieben die Investoren auf, die sie brauchten, Männer, die das Spiel liebten und bereit waren, Verluste einzustecken, solange sie eines Tages den Hauptgewinn kassierten. Um sie zusammenzubringen, setzten wir Jungbörsianer alles auf eine Karte und gründeten 1971 die weltweit erste voll computerisierte und voll automatisierte Börse, die NASDAQ. Gewagt, gewonnen. In weniger als zehn Jahren entwickelte sich die Nasdaq zur zweitgrößten amerikanischen Börse, gleich hinter der New Yorker Aktienbörse.

All diese Jahre lebten wir Tag und Nacht eingeklinkt in unsere Geräte, in einem Zustand ständiger Überspanntheit, aufgeputscht von der Gewissheit, dass wir die neuen Pioniere des amerikanischen Abenteuers waren, direkte Nachfolger unserer Ahnen, der Eisenbahn- und Erdölbarone des 19. Jahrhunderts, derselbe Appetit, dieselbe Gewalt. Wir waren ein Rudel junger Männer, trunken im Vollgefühl unserer Genialität.

Um die Schlacht zu gewinnen, mussten wir frisches Geld auftreiben. Viel frisches Geld. Zu den herkömmlichen Kreisläufen hatten wir nur tropfenweise Zugang. Bei den etablierten Vermögen erregten wir Misstrauen, überdies waren sie zu wenig flexibel. Gelegentlich haben wir mit neuen Märkten geflirtet, stark marginalisiert und boomend wie der Kokainmarkt, der beeindruckende Mengen frischen Geldes freisetzte. Aber sehr vorsichtig: Wir haben immer mit renommierten Anwälten, Finanzmaklern, Geschäftsleuten verhandelt. Wir beschlossen kurzerhand, niemals danach zu fragen, woher all das Geld kam, das sie uns zur Verfügung stellten. Um es diskret in den Kreislauf einzuspeisen, sind wir Risiken eingegangen. Wir haben ziemlich systematisch außerbörslichen Handel getrieben, unnotierte Wertpapiere, fern aller Blicke und jeder Kontrolle. Unsere Gegner bezeichneten diese Geschäfte als vollkommen undurchsichtig und warfen der Nasdaq vor, den amerikanischen Mafiafamilien als riesige Geldwaschmaschine zu dienen. Möglich. Neider. Memmen. Sie fanden wenig Resonanz, denn jeder hat deutlich gespürt, dass die rasante Entwicklung der neuen Ökonomie und Amerikas Vorherrschaft darin auf ebendieser Geldmasse beruhten. Indem wir sie zum Zirkulieren brachten, waren wir Blutkreislauf und Herzschlag der neuen Ökonomie. Wer hätte ihren Tod gewollt?

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