„Für den Lernprozess heißt das, dass der Lehrende und die Lernenden erst durch zirkuläre Kommunikations- und Interaktionsprozesse die Wirklichkeit im Lehr-/Lern-Prozess entwerfen und mithin – wenn auch unbewusst – das beeinflussen, was gelernt wird.“

Abbildung 3:
Deutungen im Interaktionsprozess
Abbildung 3verdeutlicht diesen Interaktionsprozess: Die Pfeile stellen die jeweilige Interpretation/Deutung dar. Der Lernende interpretiert den Lehrinhalt, den Lehrenden sowie den Lernkontext auf der Grundlage seiner vorhandenen Deutungsmuster. Gleiches gilt für den Lehrenden. Somit wird der Lehr-/Lernprozess zu einem zirkulären Interaktions- und Interpretationsprozess, zu einer sozialen Konstruktion der Wirklichkeit.
3.1 Die drei Dimensionen des Deutungslernens nach Schüßler
Schüßler (1998, S. 91) schlüsselt diesen Lehr-/Lernkontext in drei Dimensionen auf, in denen dieser Deutungsprozess gerade im Kontext der Erwachsenenbildung eine große Rolle spielt:
1. Dimension: Didaktische Planung
Der Lehrende entwirft auf der Grundlage seiner Deutungsmuster ein Bild der zukünftigen Teilnehmer.
Im Erstkontakt wird das Handeln nach diesem Bild ausgerichtet.
Das Erlebte im Seminar wird nach Stimmigkeit und Plausibilität mit den Deutungsmustern abgeglichen und findet Bestätigung.
Diese Deutungen bestimmen die weitere didaktische Planung und schaffen soziale Sachverhalte, welche wiederum Grundlage weiterer Interpretations- und Handlungsentscheidungen sind.
Die auf den Deutungsmustern des Lehrenden basierenden Plausibilitätskriterien entscheiden darüber, welche Inhalte angeboten und in welcher Form präsentiert werden.
In Bezug auf die Dimension „Didaktische Planung“ stellt das Konzept des Deutungslernens die Prämisse auf, dass das Lernen davon abhängt, „inwieweit in der didaktischen Planung dem interpretativen Charakter von Lehr-Lernvorgängen Rechnung getragen wird“ (Schüßler 1998, S. 93).
2. Dimension: Prozessgeschehen
Teilnehmer bringen bestimmte lebensgeschichtliche Wertvorstellungen, Handlungsorientierungen und Interpretationsmuster (Deutungsmuster) in den Lehr-/Lernprozess mit ein. Diese Deutungsmuster werden bei der Verarbeitung des Seminars aktiviert.
Auch der Lehrende verfügt sowohl über biografisch als auch professionell erworbene Deutungsmuster, welche sein pädagogisches Handeln prägen und Interventionen bestimmen. Da eine spontane Reflexion des Prozessgeschehens nicht möglich ist, greift der Lehrende im Interaktionsprozess auf routinierte Interpretations- und Handlungsmuster seiner Alltagssituation zurück.
Der Lehrende legt seinem Handeln eine bestimmte Intention zugrunde. Somit ordnet er bestimmten Lerninhalten, Teilnehmeräußerungen sowie dem didaktisch-methodischen Setting eine bestimmte Bedeutung zu.
Die Lernsituation kann für die Teilnehmer eine gänzlich andere Bedeutung haben.
Die unterschiedlichen Sichtweisen und Deutungsmuster bringen die Akteure über die Kommunikation und Interaktion in den Lernprozess mit ein.
In Bezug auf die Dimension „Prozessgeschehen“ stellt das Konzept des Deutungslernens die Prämisse auf, dass Lernen davon abhängt, „inwieweit es im Lehr-/Lernprozess gelingt, an die Deutungsmuster der Lernenden anzuknüpfen“ (Schüßler 1998, S. 93).
3. Dimension: Lernmotivation & Lernfähigkeit
Die Motivation für die Suche nach neuen/alternativen Deutungsmustern kann dann aufkommen, wenn sich vertraute Deutungsmuster aufgrund veränderter Umweltverhältnisse als nicht mehr situationsgerecht erweisen.
Sowohl im Alltag als auch in institutionalisierten Lernangeboten wird nach Kommunikationsmöglichkeiten gesucht, um neue (viable) Deutungsmöglichkeiten zur privaten oder beruflichen Alltagsbewältigung aufzuspüren oder aber sich des eigenen Deutungsmustersystems zu vergewissern.
Der Lernprozess ist somit nicht allein von den Deutungsmustern der Beteiligten beeinflusst, sondern auch von dem Bedürfnis der Lernenden, die eigenen Deutungs- und Handlungsmöglichkeiten aufrechtzuerhalten bzw. weiterzuentwickeln.
Die Lernmotivation und die -fähigkeiten hängen davon ab, ob der Lernende bereit ist, sich auf eine mögliche Konfrontation mit neuen Deutungsmustern einzulassen, oder aber ob er sein Deutungssystem gegen äußere Einflüsse immunisiert.
In Bezug auf die Dimension „Lernmotiviation und Lernfähigkeit“ stellt das Konzept des Deutungslernens die Prämisse auf, dass „Lernen davon abhängt, inwieweit die Lernenden bereit und in der Lage sind, sich auf Verunsicherungen des eigenen Deutungssystems einzulassen“ (Schüßler 1998, S. 93).
3.2 Das Deutungslernen in Lehr-/Lernprozessen
An dieser Stelle soll anschließend auf die Aufgaben der Erwachsenenbildung im Zusammenhang mit dem Deutungsprozess hingewiesen werden. Nach Tietgens (1992, S. 19) ist es die Aufgabe der Erwachsenenbildung, „Vermittlungsversuche einzuleiten bzw. zu unterstützen, die zu Offenheit und zu Differenzierung von Deutungsmustern führen“. D. h. die Erwachsenenbildung hat nicht die Aufgabe, anderen die eigenen Deutungsmuster aufzuzwängen, sondern den Lernenden lediglich dabei zu unterstützen, die eigenen Deutungsmuster zu erkennen, offen mit ihnen umzugehen und ggf. neue oder alternative Deutungsmuster anzubieten. Im Gegensatz zu der klassischen Vermittlung von Wissen und der Weitergabe von neuen Wissenstatbeständen geht es in einer am Deutungsprozess orientierten Erwachsenenbildung um „ein Bemühen um die Kommunikation von Bedeutungssystemen“ (Tietgens 1992, S. 10). Es werden also keine Lösungen (vgl. Arnold 1985) „rezeptologisch übergestülpt“, sondern lediglich als Alternative angeboten. Frederic Vester spricht in diesem Kontext von dem sogenannten „Jui-Jutsu-Prinzip“, „dem die Absicht zugrunde liegt, die Selbstorganisationskräfte des Systems nicht mit Gegenkräften in eine bestimmte Richtung zu zwingen, sondern vielmehr die Systemkräfte selbst für sich zu nutzen“ (Vester 1988, S. 82). Mezirow spricht hierbei gar von dem Ziel der Erwachsenenbildung, sich durch Reflexion und Kritik in einem diskursiven Prozess den verfälschten oder unvollständigen Bedeutungsperspektiven bewusst zu werden und diese zu transformieren: „A transformation theory of adult learning would have as its central focus understanding the nature of these meaning perspectives and how they can be changed to allow exciting new possibilities for realizing meaning and value“ (Mezirow 1990, S. 15).
Erwachsenenbildung als Deutungsprozess wird somit zu einer Prozessbegleitung auf dem Weg zu einer möglichen Transformation des Deutungsmusterhorizontes. Um mit den Worten von Arnold (1995) zu sprechen, wird bei dem erwachsenen Lerner somit kein Wissen erzeugt, sondern das Anknüpfen an neue Deutungsmuster ermöglicht („Ermöglichungsdidaktik“).
3.3 Didaktische Ansätze für das Deutungslernen
Schüßler fasst didaktische Ansätze für eine Erwachsenenbildung, die im Zusammenhang mit dem Deutungsprozess – also dem Deutungslernen – stehen, zusammen, die hier punktiert dargestellt werden sollen (vgl. Schüßler 1998, S. 110):
Im Lehr-/Lernkontext muss ein Erfahrungsaustausch als Lernprozess mit den Teilnehmern selbst gestaltet werden (nicht nur für die Bestätigung der Dozentenaussagen). Deutungen und Sichtweisen sollen dadurch rekonstruiert und einsichtig werden.
Der Lehrende unterstützt die Lernenden u. a. mithilfe wissenschaftlichen Wissens darin, zu einer Selbstaufklärung ihrer eigenen Alltagswissensbestände zu gelangen.
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