1 ...6 7 8 10 11 12 ...16 Die o. g. Theoriebezüge sind eindeutig zu erkennen:
Soziologie (vgl. Oevermann 1973): „Deutungsmuster lassen sich definieren als (…) die mehr oder weniger zeitstabilen und in gewisser Weise stereotypen Sichtweisen und Interpretationen von Mitgliedern einer sozialen Gruppe (…).“
Deutungsmuster entstehen durch einen gesellschaftlichen Sozialisationsprozess. Sie werden von den Mitgliedern einer sozialen Gruppe (z. B. Milieu) durch die Erziehung, das Schulwesen und sonstige gesellschaftliche Zusammenhänge (Vereine, Kirchen etc.) „tradiert“.
Biografieforschung: „die diese zu ihren alltäglichen Handlungs- und Interaktionsbereichen lebensgeschichtlich entwickelt haben (…).“
Neben dem gesellschaftlichen Bezug verfügen Deutungsmuster über eine biografische Dimension insofern, als dass sich die Deutungsmuster lebensgeschichtlich entwickeln. Jede Erfahrung prägt den Deutungsmusterhorizont und umgekehrt. Wie bei Oevermann so handelt es sich auch bei Arnold bei der Summe der Deutungsmuster um ein System, welches im Verlauf des Lebens ausgebildet und beeinflusst wird. Hier besteht ein weiterer systemtheoretischer Bezug (vgl. Luhmann 1984): Dieses System der Deutungsmuster wird als ein offenes System mit relativer Flexibilität der Deutungsmuster angesehen. D. h. das System ist relativ offen für Einflüsse aus der Umwelt und in der Lage, sich dieser Umwelt anzupassen. So steht die eigene Deutung immer in einer wechselseitigen Auseinandersetzung mit der Umwelt (Zirkularität), wobei in neuen Situationen das soeben Erlebte auf Konsistenz mit dem früher Erlebten und ggf. Bewährten überprüft wird.
Identitätstheorie (vgl. Siebert 1985): „Im einzelnen bilden diese Deutungsmuster ein Orientierungs- und Rechtfertigungspotential von Alltagswissensbeständen in der Form grundlegender, eher latenter Situations-, Beziehungs- und Selbstdefinitionen, in denen das Individuum seine Identität präsentiert und seine Handlungsfähigkeit aufrecht erhält.“
Aufgrund der lebensgeschichtlich entwickelten Deutungsmuster definiert ein Individuum sich selbst und seine alltäglichen Lebensumstände und hält dadurch seine Handlungsfähigkeit aufrecht. Mit anderen Worten strebt ein Individuum nach Kontinuität und vermeidet Diskontinuität, wobei die Kontinuität von den Deutungsmustern abhängig ist: „Ein entscheidender Aspekt des Lernens im biographischen Kontext ist das Bemühen um die Kontinuitätssicherung. In der Kontinuität und Diskontinuität des eigenen Lebens bildet nämlich das Individuum seine Identität aus“ (Arnold 2003, S. 50). Die Deutungsmuster als Interpretation seiner selbst und der Umwelt dienen dazu, die Kontinuität des Individuums und damit seiner Identität selbst zu gewährleisten.
In Verbindung mit dem Belastungs-Beanspruchungs-Modell kann also gesagt werden, dass die lebensgeschichtlich entwickelten Deutungsmuster dazu dienen, festzustellen, ob eine berufliche Herausforderung die Kontinuität des Individuums bewahrt oder zu einer Diskontinuität führt. Immer dann, wenn eine Person eine Aufgabe als Über- oder Unterforderung wahrnimmt, deutet dies darauf hin, dass die Aufgabenstellung nicht in das jeweilige Leistungsniveau der Person passt und somit eine Diskontinuität darstellt.
2.3 Wie entstehen Deutungsmuster?
Nach Arnold (1985) (siehe ebenso Oevermann 1973) entwickeln sich Deutungsmuster im Lebenslauf prozesshaft, wobei dieser Prozesscharakter durch vier Elemente näher gekennzeichnet wird:
„Durch die gesellschaftliche Vermitteltheit, die Nachhaltigkeit früherer Erfahrungen, die Kontinuität und die relative Flexibilität von Deutungsmustern“ (ebenda, S. 63).
Deutungsmuster werden durch die Gesellschaft vermittelt. Dazu gehören die Familie, die gesellschaftlichen Institutionen und – im Zusammenhang mit der Fragestellung der Arbeit – das jeweilige Unternehmen, die Behörde oder das sonstige Arbeitsumfeld. Darüber hinaus werden die Deutungsmuster maßgeblich von früheren Erfahrungen geprägt. Dabei können kognitiv und bewusst wahrnehmbare Deutungsmuster von latenten und emotionalen Deutungsmustern (zu den emotionalen Deutungsmustern siehe Kapitel 4) unterschieden werden. Erstere verfügen über eine gewisse Flexibilität, während letztere eher festliegen (vgl. neuere neurobiologische Erkenntnisse u. a. von Varela 1990):
„Das hierarchische Prinzip dieser Ordnung kommt darin zum Ausdruck, dass es grundlegende bzw. ‚abgelagerte‘ Deutungsmusterkerne gibt, die sich wohl am nachhaltigsten den Veränderungen widersetzen und in ihren wesentlichen Bestandteilen auch eher latent sind. Erwachsene sind selten in der Lage, diese grundlegenden Deutungsmusterkerne ihrer Persönlichkeit selbst zu benennen. (…) Die ‚Nachhaltigkeit‘ (‚das Fortdauern‘) von Deutungsmustern weist allerdings darauf hin, dass die im Lebenslauf früh erworbenen Deutungen, die sog. Basispersönlichkeit besonders stark gegen Veränderungs- und Lernprozesse immunisiert“ (ebenda, S. 65).
Zwar streben die Deutungsmuster nach Kontinuität, stehen jedoch in einer steten Auseinandersetzung mit der Umwelt (wie o. g.) und werden von ihr beeinflusst (vgl. Mayring 1990: Hermeneutische Spirale: Vorverständnis prägt Gegenwartsverständnis, Gegenwartsverständnis prägt Vorverständnis etc.):
„Nach allem was wir wissen, scheint es so zu sein, dass individuelle Deutungsmuster in einem dialektischen Prozess entstehen, indem sich das individuelle Bewusstsein in einer kontinuierlichen und immer wiederkehrenden Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Anforderungen spiralförmig entwickelt. Man kann vermuten, dass im fortschreitenden Lebenslauf, bei fortschreitender Differenziertheit und Reflektiertheit eigener Deutungen die Möglichkeit zur Korrektur und produktiven Weiterentwicklung vorgegebener Orientierungen und Erwartungen zunehmen“ (ebenda, S. 64).
Deutungsmuster, besonders die latent vorhandenen und emotional festgeschriebenen, sind gewissermaßen immunisiert, jedoch sind eine Korrektur und eine produktive Weiterentwicklung möglich. Diese produktive Weiterentwicklung ist nach Arnold (1985) von einer selbstreflexiven Kompetenz abhängig. D. h. je mehr ein Mensch willens und fähig ist, seine eigenen Deutungsmuster kritisch zu hinterfragen, desto größer ist die Chance der Weiterentwicklung. (Genau an diesem Punkt setzt diese Arbeit an: das Konzept des emotional-archetypischen Deutungslernens soll dazu dienen, den Erwachsenenpädagogen selbst und die Teilnehmer an einer Maßnahme der Erwachsenenbildung zu befähigen, ihre Deutungsmuster zu hinterfragen, um so ggf. eine Transformation der Bewertung der Situationen zu bewirken.)
Es gibt jedoch auch latente Deutungsmuster, welche quasi gegen Veränderung immunisiert sind, weil sie durch ein sehr kritisches und krisenhaftes Ereignis in unserem Gehirn „eingebrannt“ sind.
Im Hinblick auf die Veränderung von Deutungsmustern stellt sich also die Frage, inwiefern die Deutungsmuster von einem Menschen selbst erkannt werden (können) und mit welcher Intensität diese festgeschrieben wurden. Es muss also im Hinblick auf das Potential für Veränderungen der Deutungsmuster gefragt werden: „Basiert die jeweilige Deutung z. B. auf einem kritischen, krisenhaften und fatalen Erlebnis in der Kindheit oder wurde das Deutungsmuster im Verlauf der beruflichen Tätigkeit erst kürzlich entwickelt?“ Neben der Intensität der das Deutungsmuster prägenden Erfahrung ist die Möglichkeit der Reflexion und der Veränderung von Deutungsmustern von der selbstreflexiven Kompetenz abhängig, d. h. von dem Willen und der Bereitschaft des Einzelnen, die eigenen Deutungen zu hinterfragen und sich ggf. neue Deutungsmuster anzueignen. (Fraglich ist, wie genau diese selbstreflexive Kompetenz sowohl beim Erwachsenenpädagogen als auch beim Teilnehmer gefördert werden kann. Gerade diesbezüglich soll das Konzept des emotional-archetypischen Deutungslernens Aufschlüsse geben.)
Читать дальше