Udo F. Schmälzle
Wissen, Bildung und Schule neu denken
Zugänge zu einem
franziskanischen Bildungskonzept
Franziskanische Akzente
herausgegeben von Mirjam Schambeck sf
und Helmut Schlegel ofm
Band 19
UDO F. SCHMÄLZLE
Wissen, Bildung
und Schule neu denken
ZUGÄNGE ZU EINEM
FRANZISKANISCHEN
BILDUNGSKONZEPT
echter
Herzlicher Dank geht an Eva Kasper für die Zuarbeit bei den Korrekturen sowie an die Deutsche Kapuzinerprovinz für die finanzielle Unterstützung.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹ http://dnb.d-nb.de› abrufbar.
1. Auflage 2018
© 2018 Echter Verlag GmbH, Würzburg www.echter.de
Umschlag: wunderlichundweigand.de(Foto: shutterstock)
Satz: Crossmediabureau – http://xmediabureau.de
E-Book-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim, www.brocom.de
ISBN
978-3-429-05324-6
978-3-429-05001-6 (PDF)
978-3-429-06411-2 (ePub)
Inhalt
1. Einführung
War Franziskus ein „Bücherstürmer”?
Warum solche Abgrenzungen?
Was steht hinter seiner „Hermeneutik des Verdachts”?
Zugänge zu einer franziskanischen Pädagogik
2. Welche Bedeutung hatten Wissen, Lernen und Bildung im Leben von Franziskus?
„Als ich noch in Sünden war…”: Kindheit und Jugend
„Was willst Du, Herr, dass ich tun soll?” Bekehrung und Neuaufbruch
„Nachdem mir der Herr Brüder gegeben hatte…” Vom Gottsucher zum Ordensgründer
„Wer innehält, erhält Innen Halt!” (Laotse): Grundlagen einer franziskanisch inspirierten Pädagogik
„ Entbildung“ als pädagogisches Prinzip
Die Gottesbeziehung als spiritueller Glutkern
Auf der Suche nach der „wahren Wissenschaft“
3. „Man kann nicht nicht erziehen!”:
Das franziskanische Paradox
Verzicht auf Angst, Zwang und Gewalt
Teilhabe ermöglichen
Ermutigung zur spirituellen Subjektwerdung
Klara: Mehr als „die kleine Pflanze des heiligen Vaters”!
Integrieren und Resozialisieren
„Bruder Wolf” und die Frage nach den „Rechten der Tiere”
Leiten, ohne zu demütigen
Frieden durch Begegnung und Dialog
„Zuerst handeln, dann lehren”
Ergebnis
4. „Der Mönch macht aus Dreck Gold!” (Pestalozzi):
Bildung und Erziehung in der weiteren Geschichte
der franziskanischen Bewegung
Aktuelle Entwicklungen und Herausforderungen
Die franziskanische Bewegung als „Sollbruchstelle“ in der Geschichte der Kirche
Ortbestimmung christlicher Schulen in der postsäkularen Gesellschaft
Haltungen und Erziehungsziele auf der Grundlage franziskanischer Spiritualität: Schulprofil des Franziskanergymnasiums Kreuzburg
Suchen
Staunen
Glauben
Andere achten
Anteil nehmen
Einander begegnen
Schöpfung bewahren
Chancen geben
Rückmeldungen
5. Anmerkungen
6. Abkürzungsverzeichnis
1. Einführung
War Franziskus ein „Bücherstürmer”?
Die Biographen des hl. Franz von Assisi (1182-1226) lassen keinen Zweifel: Das Streben von Brüdern nach Wissen und Bildung und der Besitz von Büchern haben ihn wenig interessiert. Brüder, die Bücher haben wollten, waren ihm verdächtig und erhielten meistens eine kräftige Abfuhr. „‚Viele‘, sprach er, ‚macht Wissen ungelehrig“‘ (2C 194,2; FQ 404). Beim Mattenkapitel 1218, an dem sich eine große Zahl von Brüdern, auch auf Betreiben des mächtigen Kardinals Hugolin, an der Regel des hl. Benedikt orientieren wollte, kontert er mit einer nicht zu überbietenden Schärfe: „Durch eure Wissenschaft und Weisheit aber wird euch Gott zuschanden machen!“ (Per 18,6, FQ 1106). Was ist das für ein „Wissen“, vor dem Franziskus warnt? Welche „Wissenschaft“ macht „ungelehrig“? Wir treffen auf seltsame Widersprüche. Franziskus ermahnt die Brüder, jedes Fitzelchen Papier zu retten, auf dem auch nur ein Wort aus dem Munde Jesu zu lesen war. Auf der anderen Seite versperrt er mit dem Bücherverbot den Analphabeten unter den Brüdern den Zugang zur eigenständigen Urteilsbildung mit der Bibel. „Den anderen [Laien], die des Lesens unkundig sind, soll es nicht gestattet sein, ein Buch zu haben“ (NbR 3,9; FQ 72). Lediglich die Bücher zum Beten des Stundengebetes wollte er unter seinen Brüdern wissen. Dem hl. Antonius von Padua erlaubte er zwar, Brüdern die heilige Theologie vorzutragen, ermahnte ihn jedoch ausdrücklich, „durch dieses Studium [nicht] den Geist des Gebetes und der Hingabe auszulöschen“ (Ant 2; FQ 108).
Warum solche Abgrenzungen?
Wenn Franziskus bestimmte Formen der Wissenschaft und Bildung von seinen Brüdern fernhalten wollte, hat dies vermutlich mehrere Gründe.
Immer wieder warnt er vor der „Weisheit dieser Welt“, vor „jeglichem Stolz und eitlem Ruhm“, einer Grundhaltung, die alles Können und Wissen sich selber zuschreiben will und damit blind wird für die Erkenntnis, dass wir alles Wissen und Können Gott verdanken. Dazu kommt, dass die „Weisheit dieser Welt“ dazu verführt, nur „Worte zu machen, weniger aber zum Wirken“ (NbR, 17,9–11; FQ 83).
Mit seinen klaren Anweisungen in der Regel wollte er ferner verhüten, dass sich seine Brüder den „Minores“, den Ungebildeten, Analphabeten und Armen, entfremden und unfähig werden, als Arme unter den Armen zu leben. Deshalb seine Hermeneutik des Verdachts gegen die geltende Bildungs- und Wissenschaftspraxis seiner Zeit, die er sicher in seiner Jugend selbst erlebt hatte. Franziskus war jedoch kein Bücherstürmer! Ihm ging es um ein anderes und neues Bildungsverständnis, um eine neue Sinn- und Zielbestimmung für die Ausbildung seiner Brüder. Er verlangte von seinen Brüdern, dass sie die Lebensform der Menschen in Armut und Bildungsferne teilen, um dann an der Seite der Armen Gott zu finden und mit ihnen Kirche und Gesellschaft neu zu gestalten. Er wollte Arme und Analphabeten seiner Zeit jedoch an Bildung und Kultur teilhaben lassen, deshalb dichtete er nicht in Latein, der Sprache der Literaten, sondern in der Sprache der Illiteraten, des einfachen Volkes. „Il cantico del sol“, der Sonnengesang, gilt unter Romanisten als das älteste altitalienische Sprachdokument.
Franziskus ist also kein kleingeistiger und naiver Analphabet! Er kannte die Bibel, schuf mit dem Sonnengesang Weltliteratur, entwickelte für seine Brüder ein völlig neues Regelwerk, ermahnte in Briefen alle „Lenker der Völker“ und „Kleriker“ und scherte sich nicht um die Meinung von Papst und Bischöfen, wenn er sich nur auf sein Gewissen, die Bibel und die Offenbarungen „seines allerhöchsten Herrn“ berufen konnte! Wissen, das ihm und den Brüdern half, die Bibel besser zu verstehen, war ihm heilig. Für Helmut Feld wurde der Orden der Franziskaner bereits hundert Jahre nach Franziskus zur „Domäne der exegetischen Wissenschaft“. 1Nicht erst Martin Luther hat aus der Unmittelbarkeit seiner Gotteserfahrung gelebt und sich auf sein Gewissen berufen. Dass wir es bei Franziskus mit einem höchst gebildeten Menschen zu tun haben, der sicher mehrere Sprachen beherrschte, messerscharf denken und urteilen konnte und über ein Höchstmaß an Empathie und Einfühlungsvermögen verfügte, zeigt sich in seinem Umgang mit den Gelehrten und Mächtigen seiner Zeit, aber noch mehr in seinen Verhaltenskonzepten, die wir aus den Berichten und Erzählungen zu seinem Leben, Denken und Handeln erschließen können. Weshalb kommt es dann zu diesen heute unverständlichen Attacken gegen Bücher, Studium, Wissenschaft und Bildung?
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