2o21
Der Zukunftsnavigator
»EINE GESELLSCHAFT LEBT NIEMALS NUR AUS STAAT UND POLITIK. DIE GROSSEN ENTWICKLUNGEN FÜHRT SIE SELBST, ALS GANZES, HERBEI.«
ROMAN HERZOG
Vorwort
Deutschland mitten in der Corona-Pandemie: Ein Virus verändert Wirtschaft, Gesellschaft und unser aller Leben – was geht davon vorüber, was bleibt? Infektionszahlen laufen bedrohlich über den Ticker. Menschen blicken gebannt auf Krisen. Es herrscht große Verunsicherung. In dieser Semantik ließe sich ganz leicht eine negative Erzählung weiterstricken, die uns alle bedroht. Kein Entrinnen. Es ließe sich aber auch eine andere Erzählung starten, ein Gegenentwurf. Über die Stärken, die in Wirtschaft, Gesellschaft und in jedem Einzelnen stecken, diese Pandemie zu überwinden und den besonderen Wert unserer Gemeinschaft zu betonen. Jetzt. In dieser Stunde. Stark bleiben.
Seit 2002 bitten wir jedes Jahr Expert*innen aus Wirtschaft, Politik, Zivilgesellschaft und Wissenschaft, mit uns über die Zukunft nachzudenken. Dieses Jahr waren wir zum ersten Mal mit Rahmenbedingungen konfrontiert, die zunächst bedrohlich wirkten. Keine Präsenzveranstaltungen vor Ort. Aber dann haben wir uns schnell den neuen Chancen zugewendet. Online- und Videoformate. Wir waren wie viele in diesem Land fasziniert von den neuen Kommunikationsformen. Ja, in jeder Krise schlummert auch ein Strauß von neuen Möglichkeiten und Chancen.
Liebe Leser*innen! Es wird Sie nicht verwundern, dass wir das Thema »Stark sein – stark bleiben« in den Mittelpunkt dieses Zukunftsnavigators gestellt haben. Es ist Ausdruck unserer gemeinsamen Haltung im Roman Herzog Institut. Robust, widerstands- und anpassungsfähig bleiben. Und sich nicht ins Bockshorn negativer Zukünfte jagen lassen. So wie es der frühere Bundespräsident Roman Herzog einst formuliert hat: »Wir brauchen die Bereitschaft zu einem neuen Denken.« Richtig, ein kraftvolles Denken, das voller Optimismus und Zuversicht ist. Trotz pandemischer Bedrohungen von Arbeitslosigkeit über Lethargie bis Depression und Tod.
Wenden wir uns lieber den starken Gegenwartsfragen zu:
• Starke Gesellschaft: Wie können Demokratie und Politik Kraftspender für eine neue Aufbruchstimmung werden? Als Partei, als Regierung, als Quelle sozialer Gerechtigkeit und inneren Friedens?
• Starke Wirtschaft: Wie können Unternehmen robust bleiben? Als Organisation, als System, als Quelle unseres Wohlstands?
• Starkes Ich: Wie können Bürger*innen und Menschen selbstverantwortlich leben und arbeiten? Mit dem Ziel, ihr Leben in Eigenregie und nicht fremdbestimmt gestalten zu können.
Sie sehen, diese Fragen haben nicht unmittelbar zwingend direkt mit der Corona-Pandemie zu tun. Es sind die Selbstvergewisserungsfragen in modernen Gesellschaften mit sozial-marktwirtschaftlicher Prägung. Die Antworten darauf sind allerdings nicht letztgültig, sie müssen immer wieder neu ausgehandelt werden. Ein Prozess, der nie stillsteht. Und von gegenseitiger Toleranz geprägt ist. Denn er setzt die Fähigkeit voraus, die Möglichkeit vernünftiger anderer Alternativen oder zukünftigen Revisionsbedarfs anerkennen zu können. Das ist der starke Eckpfeiler, auf dem unser gesellschaftliches Leben basiert: Verantwortung und Wissen müssen mit Ungewissheit, Vorläufigkeit und Ambiguität operieren. Das wiederum verlangt von jedem Akteur eine gewisse Unsicherheitstoleranz. So öffnen sich auch starke Türen ins nächste Jahr.
2021. Wir sind dabei.
Randolf Rodenstock
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
STARKE GESELLSCHAFT
Franzi von Kempis Widerworte!
Katharina Schüller Jenseits der Daten
Judith Niehues Getrübter Blick
Charlotte Bartels Der lange Schatten der Krise
Verena Pausder Abgesprungen
Nikola Biller-Andorno Pepper me
Isabell Halletz Selbst ist die Pflege
Dagmar Schipanski Komplikationslos durchtunneln
Christine Gallmetzer Ganz schön stark
STARKE WIRTSCHAFT
Angelika Zahrnt/Karen Pittel Wachstum. Wohlstand. Wohlergehen
Theresa Eyerund Gemeinsame Werte, Gemeinsame Ziele
Linda Richter 100 Prozent
Irene Bertschek KRISENFEST
Angelique Renkhoff-Mücke Gemischtes Doppel
Ursula Weidenfeld Zukunft. Wirtschaft. Widersprüche
STARKES ICH
Christina Berndt Duck dich nicht weg
Nicole Brandes Raketenstart
Bea Knecht Konstruktive Fluchten
Pascale Ehrenfreund Blauer Punkt im weiten All
11 Thesen für 2021
Nachwort
Autor*innen
Impressum
STARKE GESELLSCHAFT
VERSCHWÖRUNGSMYTHEN. DIGITALE BILDUNG. PFLEGE. WIE UNGLEICH IST DEUTSCHLAND? UND WELCHE ROLLE SPIELEN DATENKOMPETENZ UND FÖDERALISMUS IN EINER ZEIT, IN DER ES MEHR DENN JE UM VERNETZUNG UND ZUSAMMENHALT GEHT. ACHT AUTORINNEN, ACHT DEBATTEN.
Franzi von Kempis
Widerworte!
EIN AKTIONSPLAN GEGEN VERSCHWÖRUNGSERZÄHLUNGEN
Als ich im März 2020 an Covid-19 erkrankte, war ich 34, gesund, ohne Vorerkrankungen – und die Welt stand erst am Anfang der globalen Pandemie. Ich war mir nicht bewusst, was diese Krankheit auslösen würde – bei mir und bei uns allen. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie sehr mich wechselnde Corona-Maßnahmen verunsichern und vor welche Herausforderungen mich ganz persönlich eine Zeit stellen würde, in der wenig als sicher gilt. Ganz sicher hätte ich nicht gedacht, dass in meiner Heimatstadt Berlin mehrere Zehntausend Corona-Leugnerinnen und -Leugner auf die Straße gehen würden. Und dass dies nicht die ersten und vielleicht auch nicht die letzten Demonstrationen ihrer Art sein würden, bei denen Menschen Plakate mit Verschwörungsmythen, antisemitischen Inhalten und rechtsextremem Gedankengut in die Luft halten, sich weigern, Masken zu tragen und den Mindestabstand einzuhalten, während sie lautstark gegen die angebliche Corona-Verschwörungslüge skandieren und den Irrglauben verbreiten, Covid-19 sei ein Hoax, den ihnen »die da oben« vorgaukeln wollen. Denn was Corona-Leugner, Rechtsextremisten und Maskenverweigerer eint? Verschwörungsmythen.
Wir befinden uns in einer einmaligen Situation. Eine globale Pandemie und ihre Bekämpfung stellen unser gewohntes Leben infrage, gefährden Menschenleben und wirtschaftlichen Wohlstand. Der beste Weg aus der Krise hinaus muss erst noch gefunden werden – dabei können wir Irr- und Umwege nicht ausschließen. Wie auch? Das verunsichert, macht Angst, weckt Bedrohungsgefühle. Aus der Wissenschaft wissen wir, dass Menschen in Krisenzeiten dazu neigen, Verschwörungserzählungen eher zu glauben als in normalen Zeiten. Denn: Sie liefern einfache Erklärungen für ungemein komplexe Situationen. Sie simulieren Antworten, wo Politiker*innen, Wissenschaftler*innen, Arbeitgeber*innen und viele weitere erst Lösungen suchen, diese manchmal auch wieder verwerfen und neu aufsetzen müssen. Und während die Welt einen Ausweg aus der Corona-Krise sucht, gefährden Menschen, die Verschwörungserzählungen rund um eine mögliche Impfung und »die da oben« und ein angeblich »nicht vorhandenes« Virus verbreiten, unsere wehrhafte Demokratie.
Wir brauchen einen Aktionsplan, um als Gesellschaft gegen diese Mythen vorzugehen, wir brauchen neue Ansätze, um Corona-Verschwörungserzählungen vorzubeugen, und wir müssen mehr Angebote entwickeln, um über diese aufzuklären und eine Gegenerzählung zu schaffen. Das Thema war lange Zeit ein Nischenthema, ob in Forschung, politischer Programmförderung oder in der Mitarbeiterentwicklung bei Unternehmen. Jetzt ist es an der Zeit, aus der Nische herauszutreten und Programm zu machen.
1. Wir müssen die Hintergründe und Zusammenhänge verstehen
Aktuell entstehen neue Konstellationen, auf Demonstrationen finden bürgerliches Lager, esoterische Hippies und radikale Rechte auf einmal ein gemeinsames Thema: Verschwörungsmythen, die sich um Corona ranken. Man könnte jetzt zugespitzt sagen: Es wurde aber auch Zeit, dass uns auffällt, welches Problem und welche Gefahr Verschwörungserzählungen in sich bergen. Und es ist bitter, dass es dafür erst solche Zusammenschlüsse auf Demos geben musste. Wir können das Problem nicht mehr »auf das Internet« oder »die Aluhüte« schieben. Verschwörungserzählungen und Menschen, die daran glauben, sind nichts Neues. Sie konnten uns auch vor Corona überall begegnen, ob am Arbeitsplatz oder beim Abendessen mit Freunden oder Familie. Schon 2019 kam eine repräsentative Umfrage der Friedrich-Ebert-Stiftung zu dem Ergebnis, dass mehr als ein Drittel der Bevölkerung glaube, »dass Politiker und andere Führungspersönlichkeiten nur Marionetten der dahinterstehenden Mächte seien.« 1 Mehr als ein Drittel!
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