Maria Alexopoulou
Deutschland und die Migration
Geschichte einer Einwanderungsgesellschaft wider Willen
Reclam
2020 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Coverentwurf: Kuzin & Kolling, Büro für Gestaltung
Coverabbildung: Unsplash.com / Timon Studler
Made in Germany 2020
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-961822-7
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-011311-0
www.reclam.de
Einleitung
Deutschland ist eine Einwanderungsgesellschaft
Deutschland ist aus einem tiefen Schlaf erwacht und hat plötzlich erkannt, eine Einwanderungsgesellschaft zu sein. Es bedurfte der sogenannten ›Flüchtlingskrise‹ 2015, damit sich erstmalig eine Mehrheit der Bevölkerung und ihrer politischen Vertreter*innen klar zu diesem Faktum bekannte. Trotz der gesellschaftlichen Spaltung, die diese Frage (wieder einmal) ausgelöst hat, ist dies eine historische Zäsur.
Diese Aussage mag überraschen, schließlich kann Deutschland auf eine 150-jährige Einwanderungsgeschichte zurückblicken. Folgende Differenzierung ist dabei wichtig: Während Migrations geschichte als breiteres Feld zu verstehen ist, das transnationale, transregionale und translokale Mobilität samt der Geschichte der damit zusammenhängenden Institutionen sowie der beteiligten Akteur*innen umfasst, hat die Geschichte der Einwanderungs gesellschaft Deutschland, um die es in diesem Buch primär gehen soll, einen anderen Gegenstand, nämlich die deutsche Gesellschaft und ihre Formen der Vergesellschaftung in Anbetracht von (dezidiert unerwünschter) Einwanderung.
Dabei ist selbst der Begriff der Einwanderung erst seit einigen Jahren in diesem Kontext üblich, ja überhaupt sagbar. Einwanderung wird als ein sukzessiver Prozess verstanden, der zur dauerhaften Niederlassung in einer Gesellschaft führt und üblicherweise mit der Erteilung voller Bürger*innenrechte für die Eingewanderten einhergeht. Da Einwanderung in Deutschland jedoch nicht erwünscht war, sprach man selbst in der Forschungsliteratur bis vor kurzem kaum davon. Stattdessen war meist von Migration oder Zuwanderung die Rede, wobei Zuwanderung ein neutraler Begriff aus der Statistik ist, der allerdings in der politischen Debatte oftmals benutzt wurde und wird, um die faktische Einwanderung nicht als solche benennen zu müssen. Migration bezeichnet dagegen insgesamt menschliche Mobilität und gehört quasi zu den Grundbedingungen der Menschheitsgeschichte,1 auch wenn der Begriff in medialen und politischen Debatten sowie im Alltagsverständnis immer wieder höchst normativ verstanden und ideologisch aufgeladen wird.
Der bis in die Gegenwart vorhandene Widerwille, die Bundesrepublik als ein Einwanderungsland zu verstehen, ging damit einher, dass auch die Geschichte Deutschlands als Einwanderungsgesellschaft weitgehend unbeachtet blieb. Die deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen stellen die einzige Einwanderer*innengruppe dar, die bislang fester Bestandteil der deutschen Erinnerungskultur und der nationalen Meistererzählung ist. Gleichwohl wurden sie sehr lange gar nicht unter dem Blickwinkel Migration, geschweige denn als Einwanderer*innen, betrachtet, erst recht sahen und bezeichneten sie sich selbst nicht als solche.
Alle anderen Menschen mit Migrations- oder Einwanderungsgeschichte, die inzwischen ein Viertel der Gesamtbevölkerung ausmachen und in manchen Städten wie Mannheim etwa 45 Prozent der Stadtbevölkerung stellen, wurden bislang quasi als Zufallsprodukte der Geschichte betrachtet: Die Art, wie in öffentlichen und politischen Debatten oder selbst innerhalb der Geschichtsschreibung über sie gesprochen wurde, erweckt den Eindruck, dass ihre Vorfahren bzw. sie selbst mehr oder weniger versehentlich in Deutschland gelandet seien. Das Einsetzen von Einwanderungsprozessen wird als Fehlentwicklung betrachtet, als Folge unbedachter politischer Entscheidungen, die aufgrund des wirtschaftlichen Booms oder auf der Grundlage des (zu) liberalen deutschen Asylrechts getroffen wurden, ohne die Konsequenzen zu bedenken. Denn Deutschland war ja – anders als die sogenannten klassischen Einwanderungsländer, worunter man die USA, Kanada, Großbritannien und Frankreich verstand – kein Einwanderungsland. Nur dass Deutschland im gesamten 20. Jahrhundert statistisch gesehen zu den führenden Einwanderungsländern gehörte. Im Verlauf des vergangenen Jahrhunderts verzeichnete Deutschland im weltweiten Vergleich meistens die zweitgrößte Zahl an Einwanderer*innen nach den USA.
Eine einstige Kolonialmacht war Deutschland ebenso wenig, zumindest glaubte es das sehr lange; es hatte also auch keinerlei Erfahrungen im Umgang mit »Fremden« wie etwa Frankreich und Großbritannien. Dabei hat Deutschland zwar eine kurze, aber von den Zeitgenoss*innen im Deutschen Kaiserreich und in den »Schutzgebieten« sehr intensiv erlebte und ereignishistorisch herausragende Kolonialgeschichte: Nicht zuletzt gilt der in Deutsch-Südwestafrika verübte Genozid an den Herero und Nama in den Jahren 1904 bis 1908 welthistorisch als der erste seiner Art. Zudem wird die deutsche Kolonisierung Osteuropas zunehmend ebenfalls als Teil einer deutschen Kolonialgeschichte verstanden.
In Deutschland existierte nach 1945 auch kein Rassismus mehr, so die weitverbreitete Meinung. Der sei mit der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland als politisches System, Ideologie und Überzeugung in der ›Stunde Null‹ verschwunden, bis er dann spätestens mit dem Aufkommen einer neuen Generation in den 1970er Jahren vollkommen ›ausgestorben‹ sei. Auch die akademische deutsche Zeitgeschichte, deren selbstgestellte Hauptaufgabe es zunächst war, die Entwicklung vom »Dritten Reich« hin zu einer demokratischen, pluralistischen Gesellschaft historiographisch zu begleiten, sah bis vor kurzem keinen Anlass, sich mit der Geschichte des Rassismus in Deutschland seit 1945 zu beschäftigen. Die Geschichtsschreibung der DDR hatte sich zwar den Anti-Rassismus auf die Fahnen geschrieben, was aber kaum nachhaltige Wirkung auf die gesamtdeutsche Historiographie hatte.
Umso größer war bei den führenden Zeithistorikern – hier ist bewusst nur die männliche Form gewählt, da Männer weiterhin die Debatten dominieren – die Ratlosigkeit darüber, wo all dieser offene Rassismus, der den Geflüchteten aus Syrien und anderen Krisengebieten der Welt seit 2015 entgegengebracht wurde, plötzlich herkam. Die Wahlerfolge der AfD konnten nicht allein auf den Einfluss der rechtsextremen Szene oder auch nur den aktuellen globalen Siegeszug des Rechtspopulismus zurückgeführt werden. Die klassischen Erklärungsmuster von den »Ängsten der Bürger« oder von der ökonomischen Krise, die in Phasen von Konjunkturen des Rassismus in Deutschland immer wieder zum Einsatz gekommen waren, schienen nun ebenfalls nicht mehr richtig zu greifen.
Bei der Analyse der Ereignisse rund um den sogenannten Asylkompromiss 1993 hatte man sich letztlich mit Erklärungen zufriedengegeben, die das Phänomen sehr verkürzt darstellten: Die Pogrome gegen Asylbewerberheime und der offene Hass auf Ausländer und ›Asylanten‹ seit Ende der 1980er Jahre, die mehrere Migrant*innen das Leben kosteten, trafen auch Menschen, die schon lange als Einwanderer*innen in Deutschland gelebt hatten. Ziemlich vereinfachend wurde diese Gewalt als Ausdruck von Problemen abgehängter junger ostdeutscher Männer interpretiert, die mit den Entwicklungen der Wiedervereinigung nicht zurechtgekommen und deshalb zu Rechtsextremen geworden seien. Rechtsextreme Kräfte und Bewegungen für die alleinige Ursache des Rassismus in Deutschland zu halten, ist jedoch nicht nur historisch falsch, sondern auch gefährlich.
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