NICHT NUR MYTHEN SIND IMMER NUR EINEN KLICK WEIT ENTFERNT, SONDERN AUCH FAKTENCHECKS, VERIFIZIERTE INFORMATIONEN UND INHALTLICHE AUFKLÄRUNG – SOMIT SCHAFFT DAS INTERNET KONTEXT UND EINORDNUNG, DIE VOR INTERNETZEITEN GAR NICHT MÖGLICH GEWESEN WÄREN.
Zudem sollte man im Kopf behalten: An solche Inhalte zu glauben löst hohe psychische Belastungen aus, gerade wenn der Verschwörungsglaube immer stärker Teile des eigenen Alltags dominiert. Auch für die Familien von Betroffenen kann das eine immense Herausforderung darstellen. Nicht selten kommt es zum Bruch.
3. Wir müssen die Rolle des Internets einordnen
Das Internet spielt eine bedeutende Rolle bei der Verbreitung von Verschwörungsmythen und Falschmeldungen – auch in Corona-Zeiten. Natürlich, denn hier treffen und finden sich Gleichgesinnte, stoßen manche Menschen das erste Mal auf bestimmte Mythen und Fake-Infos. Verschwörungsideologen sind nicht mehr wie früher auf klassische Medien angewiesen, sondern können im Netz eigene Welten kreieren und via digitalen Plattformen ihr Publikum aufbauen und hohe Reichweiten erzielen. Hinzu kommt: Weil im Netz sowohl Pro- als auch Contra-Informationen vorhanden sind, stößt man beim Googeln zu einem bestimmten Thema, Beispiel »Impfen«, schnell auch auf Anti-Seiten. Im Netz zeigt sich außerdem, dass einige wenige oftmals ausreichen, um für Falschmeldungen und Verschwörungsmythen hohe Reichweiten zu erzielen.
Sowohl Twitter als auch Facebook wollen stärker gegen die Verschwörungserzählung von QAnon vorgehen und Nutzerkonten sperren, die diese Mythen verbreiten. Facebook hat außerdem seine Regeln, was Hatespeech gegen Jüdinnen und Juden angeht, verschärft. Allerdings: In den Ländern, in denen die Leugnung des Holocaust nicht unter Strafe steht und somit auch nicht geahndet wird, ändert sich nichts. Anders auf YouTube – sonst eher bekannt als Hort der endlosen Verschwörungsvideo-Loops, in denen man dank des Algorithmus, der einem ähnliche Videos vorschlägt, hängen bleiben kann: Hier ist Holocaustleugnung seit 2019 verboten.6 Trotzdem bleibt YouTube einer der Ursprungsorte für verschwörungsideologische Inhalte: Das Rechercheportal Correctiv fand heraus, dass Verschwörungsmythen über WhatsApp und Facebook zwar verbreitet werden, ihren Ursprung zumeist aber auf YouTube haben.7 Auch das ist eine Information, die wir im Hinterkopf behalten sollten, wenn in einem Chat ein verdächtiger Link auftaucht.
Das alles ist die eine Seite. Andererseits müssen wir, bevor wir das Internet als Quell allen Übels und Schuldigen für verschwörungsideologische Inhalte verteufeln, auch in Betracht ziehen, dass es dank des Netzes eben auch mehr Möglichkeiten denn je gibt, sich zu informieren. Nicht nur Mythen sind immer nur einen Klick weit entfernt, sondern auch Faktenchecks, verifizierte Informationen und inhaltliche Aufklärung – somit schafft das Internet Kontext und Einordnung, die vor Internetzeiten gar nicht möglich gewesen wären. Außerdem weisen Studien nach, dass Verschwörungsmythen schon vor der Existenz von YouTube, Facebook, Twitter und Co. weit verbreitet waren – und auch über klassische Medien gestreut wurden (und heute noch werden).8
Welche Verantwortung haben die sozialen Plattformen? Nocun und Lamberty verweisen darauf, dass Maßnahmen wie das Twitter-Verbot für politische Werbeanzeigen auf der Plattform und die Einführung von Faktenchecks auf Facebook nur ein Anfang sein können und die Wirksamkeit dieser Maßnahmen noch nicht bewiesen sei. Sie fordern einen ausführlichen Faktencheck auf YouTube – statt des aktuellen Wikipedia-Verweises.9 In Zeiten ausufernder Verschwörungsideologien, die irrationale Ängste vor einer globalen Pandemie bedienen und damit nicht nur die Gläubigen selbst, sondern uns alle betreffen (zum Beispiel durch Verweigerung der Corona-Maßnahmen, die uns alle schützen), halte ich einen solchen Ansatz für zutreffend – wir brauchen mehr Transparenz und einfachere Formen der Aufklärung, die dort greifen, wo Menschen im Netz auf bestimmte Aussagen treffen.
4. Wir müssen flächendeckende neue Angebote schaffen
Nicht nur im Internet brauchen wir für verschwörungsideologische Inhalte neue Angebote. Wir brauchen sie auf vielen unterschiedlichen Ebenen: politisch, gesellschaftlich, in der Wirtschaft ebenso wie in Schulen, für Jugendliche genauso wie für Erwachsene. Denn diese Inhalte sind eine Gefahr für den Zusammenhalt unserer Demokratie, sie werden genutzt, um politisch Stimmung zu machen, gegen PoCs,10 Geflüchtete, LGBTQ+, gegen Jüdinnen und Juden, überhaupt gegen marginalisierte Gruppen und auch gegen Frauen. Wir müssen aufhören mit dem »Das betrifft mich ja nicht«-Denken, denn die Auswüchse dieser politischen, antidemokratischen Stimmungsmache treffen uns alle.
Wir brauchen also flächendeckende, gesellschaftlich integrierte und, ja, auch staatliche Programme, die sich der Aufklärung widmen. So gibt es aktuell einige Beratungsangebote für Betroffene und/oder Familien von Verschwörungsgläubigen – zum Beispiel Sektenberatungsstellen in einigen Bundesländern. Expert*innen wünschen sich hier den weiteren Aus- und Aufbau spezialisierter Beratungsstellen für Angehörige mit psychologischer Expertise in genau diesem Bereich. Aktuell zögerten nämlich noch viele, sich an Stellen zu wenden, die den Fokus eher auf Sekten oder zum Beispiel Rechtsextremismus legten, da sie sich hier nicht »passend« fühlten.11 Ganz abgesehen davon, dass auch die aktuellen Angebote nicht alle darauf ausgerichtet sind, verschwörungsideologische Inhalte in der wachsenden Anzahl und aktuellen Dimension aufzufangen. Um so etwas aus- und weiter aufzubauen, braucht es klare finanzielle Zugeständnisse und Förderprogramme.
Neben (weiteren) Beratungsstellen wäre es ebenfalls an der Zeit, spezifische Aussteigerprogramme aufzusetzen und ärztliche Unterstützung anzubieten – beziehungsweise die Ärzteschaft zu sensibilisieren, zu schulen und zu unterstützen. Denn wenn Menschen an einen Verschwörungsmythos glauben und deshalb sich oder ihr Kind nicht adäquat behandeln oder impfen lassen wollen, schlägt dieses Problem in allererster Linie bei der Hausärztin oder dem Hausarzt auf. Um überhaupt eine Chance zu haben, richtig zu reagieren, Zugang zu den Patienten zu finden, braucht es auch hier Aufklärung und Informationen über aktuelle Verschwörungsdiskurse und gängige Argumentationslinien.12
Es gibt auch im deutschsprachigen Raum viele kluge Menschen aus den unterschiedlichsten Bereichen, sei es Zivilgesellschaft, Journalismus, Wirtschaft, Politik, die sich schon heute dem Thema »Verschwörungsmythen« stellen. Darunter viele Personen, die dies in ihrer Freizeit tun, unentgeltlich oder für sehr wenig Geld und – weil sie in den Fokus bestimmter Verschwörungsideolog*innen und deren Anhänger geraten – vermehrt auch unter persönlicher Bedrohung. Wir müssen uns überlegen, wie wir diese Menschen besser schützen können. Wie auch in anderen Bereichen, zum Beispiel der Rassismusbekämpfung oder dem Kampf gegen Antisemitismus, stellt sich die Frage, welchen Preis Menschen bereit sein sollen, freiwillig zu zahlen, um sich füreinander und gegen antidemokratische Meinungsmache einzusetzen. Wer Angst haben muss, die eigenen Partner*innen oder Kinder zu gefährden oder dass die eigene Adresse aufgrund der aktuellen Impressumspflicht in die falschen Hände fällt, überlegt es sich in Zukunft vielleicht zweimal, ob sich der eigene Einsatz wirklich lohnt. So weit dürfen wir es nicht kommen lassen.
Giulia Silberberger vom Goldenen Aluhut, einer gemeinnützigen Organisation, die sich seit Jahren mit dem Monitoring verschwörungsideologischer Inhalte beschäftigt, wünscht sich mehr Grundlagenforschung und vor allem auch einen ganzheitlichen Ansatz zu diesem Thema: »Wir müssten alle Berufsgruppen besser vernetzen, um Erkenntnisse aufeinander aufzubauen und miteinander die richtigen Ansätze zu finden und zu entwickeln. Dafür braucht es gesicherte Finanzierung für die Beforschung dieser Szenen, die Auswertungen und das Monitoring. Genauso benötigen wir auch Pädagogen, die anhand dieser Forschung eigene medienpädagogische Angebote für unterschiedliche Zielgruppen entwickeln. Nur wenn wir die Grundlagen des Verschwörungsglaubens verstehen, können wir für Menschen Alternativangebote schaffen und sie dort abholen, wo sie stehen.«
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