Auf was zielen solche Erzählungen ab? Sie sollen möglichst einfache Antworten auf unübersichtliche, komplizierte Probleme und Situationen geben. Sie produzieren klare Feindbilder und einfache Erklärungen für komplexe Zusammenhänge. Sie erklären komplizierteste gesellschaftliche, politische oder wirtschaftliche Probleme oder eben eine globale Pandemie lückenlos und präsentieren dabei einen oder gleich mehrere vermeintliche Schuldige. Wer daran glaubt, sammelt alles, was das eigene Weltbild stützt. Was nicht passt: wird weggelassen. Sachliche Argumente kritischer Stimmen werden dabei angezweifelt oder geleugnet. Deshalb ist auch der oft genutzte Begriff »VerschwörungsTHEORIE« mit Vorsicht zu gebrauchen. Theorien sind wissenschaftliche Erklärungen, den Begriff »Verschwörungstheorien« zu nutzen suggeriert also, man befinde sich in der Diskussion mit »Verschwörungstheoretiker*innen« auf wissenschaftlichem Boden. Die Psychologin Pia Lamberty, Co-Autorin des Buches Fake facts, nennt die Bezeichnung »Verschwörungstheorie« sogar irreführend: »Eine Theorie lässt sich wissenschaftlich an der Welt testen. Das passiert hier ja eben nicht, weil sich diese Theorien wissenschaftlichen Kriterien von Widerlegbarkeit entziehen.« Und schlägt stattdessen zwei andere Begriffe vor: »Zum einen den Verschwörungsmythos, also ein abstraktes Narrativ, das bereits lange existiert und modifiziert immer wieder erscheint – etwa die jüdische Weltverschwörung. Zum anderen die Verschwörungserzählung, also eine konkrete Verschwörungsgeschichte, die sich häufig aus einem älteren Verschwörungsmythos speist – also etwa Verschwörungsgeschichten um Prinzessin Diana.« Zudem spricht Lamberty »von einer Verschwörungsmentalität, die wir als generelles Misstrauen gegenüber als mächtig wahrgenommenen Personen beschreiben.«
Auch die Basis für solche Verschwörungsmythen sind selten wirklich neue Gewächse. So verbreitet Attila Hildmann, ehemals bekannt als Star-Vegankoch, jetzt bekannt als gefährlicher Verschwörungsguru, zum Beispiel klare antisemitische Hetze. Dass Verschwörungsmythen und -erzählungen oftmals eine antisemitische Grundlage beinhalten, ist – leider – kein neues Phänomen, eher das Gegenteil. Antisemitische Verschwörungsmythen sind uralt, die »jüdische Weltverschwörung« gilt als die Urmutter der Verschwörungserzählungen. Hinter der angeblichen Verschwörung steht die Vorstellung, »alle Jüdinnen und Juden« hätten sich gegen die nichtjüdische Welt verschworen und würden im Geheimen daran arbeiten, die Welt zu beherrschen.2 Und auch bei Verschwörungserzählungen, die auf den ersten Blick nicht direkt »die Juden« nennen, findet sich beim Nachhaken oft doch eine antisemitische Grundlage.
Wenn wir uns die letzten Monate ansehen, finden wir viele Ansätze, warum die aktuelle Pandemie Menschen in die Hände von Verschwörungserzählungen treibt: Wir bekommen jeden Tag neue Informationen, die sich teilweise auch widersprechen. Die Verantwortlichen müssen Entscheidungen treffen, die sie teilweise wieder revidieren, sie machen Fehler, sie irren sich. All das verunsichert und macht uns empfänglicher für »leichte Antworten«, die das anbieten, was wir vielleicht ohnehin hören wollen. Während uns Verschwörungserzählungen erst mal eine einfache Erklärung (»Corona gibt es nicht, das ist eine Lüge«) liefern, teilen sie die Welt außerdem in Gut und Böse ein (»Das wollen uns die da oben nur einreden – aber wir durchschauen ihre hinterlistigen Absichten«). Weil Corona als Krankheit eher schwer greifbar ist, machen es diese Erzählungen einem einfacher, sich an einem Feindbild abzuarbeiten.3 Und natürlich ist Covid-19 furchteinflößend. Wie viel leichter ist es da, einem Mythos anzuhängen, »das sei doch alles gar nicht so schlimm und nur eine harmlose Grippe«? Auf eine perfide Art und Weise kann ich das verstehen. In Deutschland gibt es 403 291 Fälle (Robert Koch-Institut, Stand 23.10.2020 4) – das bedeutet, dass die allermeisten von uns wahrscheinlich wirklich niemanden kennen, die oder der am Virus bislang erkrankt ist. Bis heute ist die Reaktion, wenn ich jemandem erzähle, dass ich tatsächlich Corona hatte und, ja, auch tatsächlich ziemlich krank war, in 90 Prozent der Fälle: »Ach, echt? Du bist die erste Person, die ich kenne, die das wirklich hatte.« Oft folgt: »Aber SO schlimm war es ja nicht, oder?«
2. Wir müssen widersprechen (lernen)
Corona-Verschwörungsmythen tauchen überall auf: In Familien-Whats-App-Chats, im Kolleg*innenkreis, in den Kommentarspalten unter Videos und Artikeln. Und weil sie eben überall auftauchen, muss es auch überall Menschen geben, die solchen Falschmeldungen widersprechen, antidemokratischen und antisemitischen Inhalten Einhalt gebieten und »Stopp« sagen. Wir müssen dabei bei denen ansetzen, bei denen das Weltbild noch nicht verfestigt ist – denn ab einem bestimmten Punkt werden Menschen immer schwerer erreichbar. Das ist im eigenen Familien- und Bekanntenkreis natürlich einfacher: Wir sind einander verbunden, man will sich nicht verlieren. Offen auf jemanden zugehen, Menschen nicht abwerten und alleine lassen, gerade in der unsicheren Situation, in der wir uns gemeinsam befinden. Was hilft: nachfragen, sich erkundigen, warum die Person aus dem eigenen Umfeld genau dieser Verschwörungserzählung glaubt. Dissonanzen aufzeigen, Unregelmäßigkeiten erklären. Hinterfragen, woher die Quellen für die Erzählung stammen. Und manchmal gilt es dabei auch, krude Theorien auszuhalten. Denn man muss sich auch die Frage stellen, ob reines Fakten-Gegenschleudern wirklich etwas bringt. Warum sollte ich dem Tagesschau-Artikel vertrauen, wenn ich nicht an die Lügenpresse glaube? Warum sollte ich staatlichen Statistiken glauben, wenn ich der Regierung nicht traue? Wer Medien und Politik misstraut, den erreicht man eventuell besser durch konkretes Nachfragen: »Warum dieses Video? Was erscheint dir daran glaubwürdig und warum?«
Im privaten wie im beruflichen Kontext gilt es dabei, für sich selbst rote Linien zu definieren. Wie weit bin ich bereit zu gehen? Bitte nicht vergessen: Verschwörungsmythen und -erzählungen beinhalten oft antidemokratische oder antisemitische Thesen, auch wenn sie vorgeben, die Demokratie hochzuhalten. Wenn wir menschenfeindlichen Aussagen begegnen, sollten wir darauf hinweisen und gegen sie einstehen. Was dabei hilft:
• Sich selbst ein Ziel für eine solche Diskussion setzen (ob mit den eigenen Eltern oder der Arbeitskollegin) und sich klar werden, wen man eigentlich erreichen möchte – die Person, die an einen Verschwörungsmythos glaubt? Oder Menschen, die danebenstehen? Oder Betroffene von Verschwörungsgläubigen?
• Sich klar werden, ob man inhaltlich für eine Diskussion gewappnet ist. Es kann helfen, sich in bestimmte Mythen und Erzählungen einzulesen, damit man nicht argumentearm und ermüdet abbrechen muss.
• Sich Unterstützung holen und auf die eigene mentale Gesundheit achten: Idealerweise zieht man nicht alleine in eine Diskussion rund um Verschwörungserzählungen. Und immer gilt: nur das tun, was einem selbst mental guttut beziehungsweise was man selbst aushält.5
Nicht hilfreich: pauschal diffamieren. Andere als #Covidioten oder Aluhüte zu betiteln ist einfach, klingt lässig, man steht auf der vorgeblich »sicheren« Seite. Dabei geht es doch eigentlich darum: Dinge differenziert zu betrachten. Einsicht zu gewinnen. Diejenigen mitzunehmen, die sich rational bewegen, die kritisieren, aber nicht vernunftswidrig handeln und für Argumente nicht mehr zugänglich sind. Und wir sollten auch nicht vergessen: Es ist absolut gerechtfertigt und notwendig, politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Prozesse und Vorgehensweisen kritisch zu hinterfragen. Das gilt ebenso für uns selbst. Jeder sollte in der Lage und offen dafür sein, seinen eigenen Standpunkt wieder und wieder zu beleuchten und eigene Argumente auf den Prüfstein zu stellen – es ist erlaubt und manchmal zwingend notwendig, die eigene Meinung zu ändern. Disclaimer: Als Autorin eines Buches, in dem es ein eigenes Kapitel zum Umgang mit verschwörungsideologischen Inhalten gibt, habe ich dort selbst zum Beispiel den »Verschwörungstheorie«-Begriff durchgängig genutzt. Ein Jahr später würde ich das heute anders machen, ich bin durch die Corona-Epidemie und ihre verschwörungsideologischen Auswüchse sowie neue Literatur zu dem Thema nun eines Besseren belehrt worden.
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