Natürlich wusste Sinnas, wie man Befehle gab und die Übersicht behielt, doch sein gesamtes Wissen über Taktik und Strategie umfasste nur die Grundlagen. Das Einzige, was Sinnas wirklich meisterhaft konnte, war, seine Angst und sein schlechtes Gefühl zu verbergen, sodass niemand bemerkte, dass der Kommandant die Schlacht bereits für verloren hielt, weil er selbst an seinen Qualifikationen zweifelte. Doch sein Pflichtbewusstsein, welches ihn daran erinnerte, dass er für das Leben von Tausenden verantwortlich war, verdrängte die Selbstzweifel.
Kommandant Sinnas griff zum Mikrofon, um eine letzte Rede vor dem Angriff zu halten: „Soldaten, ich will ehrlich sein. Unser Aufklärer, der als Einziger wieder zurückkam, berichtet von einer Armee, die uns mindestens um das Dreifache überlegen ist.“ ‚Toller Anfang, ich Idiot! Das wird sie ja richtig motivieren‘, schalt sich Sinnas in Gedanken selbst. „Und wir werden die Stadt nicht halten können. Doch das müssen wir nicht. Wir müssen sie aufhalten, bis jedes Kind, jede Frau und jeder Mann in Sicherheit ist. Kämpft für ihre und eure Zukunft. Kämpft für die Menschheit!“
Der gedämpfte Jubel der Soldaten wurde über die Lautsprecher in die Kommandozentrale übertragen und Sinnas wusste, dass er wenigstens das hinbekommen hatte. Er blickte sich in der Zentrale um und sah jeden seiner Untergebenen an. „Packen wir es an“, sagte er zu ihnen. Sie nickten allesamt und blickten wieder auf ihre Monitore. Ganz leise murmelte Sinnas: „Möge Gott mit uns sein.“
Leise zischte der Wind durch die Stadt und trug dabei Sand in die Straßen. Doch heute interessierte sich niemand für dieses tägliche Ärgernis. Die Augen aller Soldaten waren trotz des Sandes, der ihnen entgegengeblasen wurde, auf den Horizont gerichtet. Alle warteten auf den Feind und wünschten sich gleichzeitig, dass er nie kommen würde. Die Infanterie hockte hinter den Barrikaden, die auf den Straßen aufgebaut worden waren, während die Panzer und Kampfroboter ihre Waffen in die Ferne gerichtet hielten, um den Feind, sobald er sich blicken lassen würde, zu befeuern. Über ihren Köpfen flogen zwischen den verbliebenen Wolkenkratzern hindurch einige Senkrechtstarter, die Luftunterstützung geben sollten. Zu guter Letzt befand sich in der Stadtmitte die Artillerie, die die ungefähre Position des Feindes dank Rader orten und ihn so unter Beschuss nehmen konnte.
So stand nun die Armee in der Stadt und wartete, während die Soldaten die Artilleriegeschosse beider Seiten davonfliegen beziehungsweise einschlagen sahen. Und auch Sinnas wartete, während er auf das Hologramm starrte, welches das Schlachtfeld in groben Umrissen zeigte. Die Position der eigenen Truppen wurde korrekt angezeigt, während das Hologramm nur ungefähre Positionen des Feindes wiedergeben konnte, da Störsignale eine genaue Ortung verhinderten. Dies verdeutlichte dem jungen Kommandanten, dass der Feind noch einen großen Vorteil hatte. Während er sich auf das Radar verlassen musste, konnte der Feind dank des Satellitensystems, das sich unter der Kontrolle der Putschisten befand, die Positionen und Bewaffnung der Verteidiger genau erkennen. Kurz gesagt: Der Feind wusste, was ihn erwartete, die Verteidiger aber nicht.
Die Berichte des Aufklärers waren viel zu vage. Die Unmengen an Panzern und Kampfrobotern, die in dem vom Bordcomputer aufgenommenen Film zu sehen waren, erstickten die Hoffnung der Loyalisten. So blieb dem jungen Kommandanten nichts anderes übrig, als auf das Rader zu schauen und zu warten, bis die ersten Gegner in Sichtweite kommen würden.
Dann war es so weit: Sandwolken erschienen am Horizont und enthüllten Panzer und Truppentransporter, die sich rasch der Stadt näherten und das Feuer eröffneten, während über ihnen Kampfsenkrechtstarter hinwegdüsten. Die Verteidiger erwiderten das Feuer.
Als der äußerste Stadtring erreicht wurde, blieben die Truppentransporter stehen und entluden ihren Inhalt, während die Panzer weiterrollten und Feuerschutz gaben. Besessene Soldaten sprangen heraus und eröffneten unverzüglich das Feuer. Die Schlacht um New Paris hatte begonnen.
1. Kapitel – Was wollt ihr eigentlich?
Goldia, Hauptstadt des Reiches des Silbernen Hammers Morgen des ersten Tages nach dem Fall von New Paris
Du kannst mir nicht entkommen.
Die Stimme schien überall und gleichzeitig nirgendwo zu sein. Erwin hechtete durch die ewige Dunkelheit, verfolgt von irgendetwas.
Renn nicht weg! Es verzögert nur das Unvermeidliche.
Erwin dachte nicht daran, stehen zu bleiben. Er rannte immer weiter in die Dunkelheit, in der Hoffnung, so der unheimlichen Stimme zu entkommen.
Es hat keinen Sinn, vor mir wegzurennen. Niemand kann sich selbst entkommen.
„Lass mich in Ruhe! Verschwinde!“, schrie er …
… und erwachte. Erwin schreckte hoch und wusste einen Moment lang nicht mehr, wo er war. Er blickte sich im Zimmer um und erinnerte sich dann. Dies war eines der Gästezimmer der Goldenen Zitadelle, das Erwin bezogen hatte, nachdem die Schlacht um Goldia zu Ende gewesen war. Erwin zitterte am ganzen Leib und versuchte, sich zu beruhigen.
Sein Blick schweifte durch das Zimmer: Es war, wie der Rest der Zitadelle, prunkvoll. Das Bett und ein Tisch mitsamt den Stühlen waren aus gutem Holz gefertigt, das aus dem Elfenreich importiert worden sein musste, während der Boden, die Wände und die Decke aus Gold bestanden. Zudem gab es ein großes Glasfenster und wie der Zufall es wollte, befand es sich in der richtigen Ausrichtung, um die Morgensonne hereinzulassen. Wirklich ein bemerkenswerter Zufall, wenn man bedachte, dass die Stadt Goldia noch vor einem Tag komplett unter der Erde gelegen hatte und nur wegen der mächtigen Magie das Flammenden Prinzen, die den halben Berg wegsprengt hatte, ans Tageslicht gekommen war. Es würde vermutlich lange dauern, bis die Zwerge sich an die Sonne gewöhnen konnten.
Lautes Klopfen riss Erwin aus seinen Gedanken und eine sanfte Stimme ertönte: „Ich bin es, April.“
Erwin ging zur Tür und öffnete sie. Vor ihm stand April, die Wassermagierin, die sichtlich erleichtert aussah. „Guten Morgen, April.“
„Guten Morgen, Erwin. Ist mit dir alles in Ordnung? Ich habe dich schreien gehört“, fragte April besorgt.
„Ähm, ja, ich hatte einen Albtraum. Kein Wunder, wenn man bedenkt, was wir so alles durchmachen mussten. Tut mir leid, falls ich dich erschreckt habe.“
„Ist schon in Ordnung.“ April sah Erwin an und dieser erwiderte den Blick.
Es entstand eine peinliche Pause. April wusste, dass Erwin etwas belastete, was mehr war als nur ein Albtraum, und Erwin ahnte, dass April es wusste.
Die Wassermagierin brach das Schweigen und sprach weiter: „Ich habe dir eine neue Robe mitgebracht“, wobei sie Erwin eine schneeweiße Robe reichte.
Erwin nahm sie entgegen und bemerkte: „Danke.“ Dann fiel sein Blick auf ein Zeichen auf der Rückseite: eine Sonne, die von einem Ring umgeben war. „Das ist ja die Robe eines vollwertigen Lichtmagiers“, stellte Erwin erstaunt fest.
„Ja, diese Robe hat mir einer der Flüchtlinge gegeben. Er selbst ist auch ein Lichtmagier und bot mir diese Robe sofort an, als ich herumgefragt hatte.“
„Du hast für mich nach einer neuen Robe gesucht?“, fragte Erwin teils erstaunt, teils gerührt.
„Ja, die hast du dringend notwendig, wenn man dich so ansieht.“
Erwin blickte an sich herab und musste zugeben, dass dies noch untertrieben war. Die blaue Robe, die er von April in der Wüste bekommen hatte, war mehr zerrissen als heil und zudem nicht mehr blau, sondern bräunlich, was dem vergossenen, inzwischen getrockneten Blut, teils von Erwins Feinden, teils von ihm selbst, zu verdanken war. Die alte Robe sah so aus, wie sich Erwins Seele anfühlte. Nichts war mehr von seiner Naivität übrig geblieben, stattdessen war seine Seele von dem, was er miterleben musste, zerkratzt und verunreinigt. Es war schwer vorstellbar, dass Erwins altes Leben als Lehrling an der Akademie des Lichts erst vor zwei Wochen geendet hatte.
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