Nach mehreren Minuten Eile erreichte Kalus den Platz der Nacht, eine große Fläche, gepflastert mit Obsidiansteinen. Der Platz lag direkt vor der gewaltigen Zitadelle der Finsternis, welche auf einer Erhöhung im Mittelpunkt der Stadt thronte. Jeder Besucher, der aus den Tunneln, die in die Höhle von Gula führten, trat und die Stadt erblickte, erkannte sofort, dass die Zitadelle der Finsternis das Herz des Reiches war. Und obwohl die Stadt selbst mit ihren Gebäuden aus grauem Granit schon unheimlich wirkte, wurde sie von der Zitadelle, erbaut aus nachtschwarzem Granit, noch übertroffen. Die Zitadelle stellte eine Hochburg der Finsternis dar, unbezwingbar und furchteinflößend. Sie übertraf in der Größe selbst die Akademie des Lichts von Erlin. Vermutlich war die Zitadelle das größte Gebäude von ganz Locondia. Und wahrscheinlich galt das auch für das Tor aus schwarzem Holz, durch das man vom Platz aus in den Thronsaal gelangte. Es war zehn Meter hoch und fünfzehn Meter breit, sodass selbst Riesen wie die Zyklopen die Zitadelle betreten konnten.
Als nun Kalus auf dieses Tor zuging, öffnete es sich von selbst und offenbarte einen Gang, der nur spärlich von wenigen Fackeln ausgeleuchtet wurde. Jedoch hätte das Licht trotzdem ausgereicht, um die Wandbilder, die wichtige Ereignisse der Dämonengeschichte, unter anderem die Vereinigung, darstellten, betrachten zu können. Kalus hatte dafür aber keine Zeit, sondern eilte durch den Gang. Der Dämonenlord hasste es, zu warten, daran konnte sich Kalus gut erinnern, auch wenn seine letzte Audienz schon Jahre zurücklag.
Endlich war der Felusianer im Thronsaal angekommen, der noch weniger beleuchtet war als der Gang. Man konnte nur innerhalb des Eingangsbereiches etwas erkennen. Der hintere Teil, wo vermutlich der Thron stand, lag in ewiger Dunkelheit. Kalus hatte noch nie den Dämonenlord zu Gesicht bekommen und auch noch nie von jemandem gehört, dem dies gewährt worden war.
Der Felusianer blieb im beleuchteten Bereich stehen und wartete. Weiter durfte er nicht und das wollte er auch nicht. Denn er hatte angsteinflößende Gerüchte über diese Dunkelheit gehört, auch wenn es natürlich schwer zu sagen war, ob sie der Wahrheit entsprachen. Angeblich soll einmal ein anderer Felusianer so tollkühn oder auch so dumm gewesen sein, in die Dunkelheit hineinzutreten. Man hatte nie wieder etwas von ihm gehört. Die meisten dachten, er wurde voller Zorn vom Dämonenlord erschlagen, weil er es gewagt hatte, diese Regel zu brechen. Andere meinten, dass der Verschwundene von den Schoßtierchen des Dämonenlords, die man in der Dunkelheit still ruhend neben dem Thron vermutete, gefressen wurde. Und noch andere glaubten, der Dämonenlord würde ihn mit Magie am Leben erhalten, damit dieser in alle Ewigkeit durch die Dunkelheit des Thronsaals irren musste, unfähig, das Licht des Eingangsbereiches zu sehen. Und das alles nur, um den Dämonenlord zu unterhalten.
Was aber auch immer davon stimmen mochte – Kalus wollte es nicht herausfinden. Zu groß war seine Ehrfurcht vor dem Dämonenlord, dessen Dasein für den gemeinen Dämon so unbegreiflich war wie das der Finsternis selbst. Nur eine kleine misstrauische Stimme in Kalus’ Kopf fragte sich, was der Dämonenlord zu verbergen hatte und weshalb er sich nicht zeigte. Doch sie verstummte schnell, erdrückt von der Angst.
Dafür aber meldete sich eine neugierige Stimme in seinem Kopf: ‚Lebt hier eigentlich noch jemand oder etwas anderes als der Dämonenlord?‘ Es gab niemanden, den er hätte fragen können. Die Zitadelle wurde nicht von den Soldaten bewacht und der Thronsaal war bislang der einzige Raum der Zitadelle, der überhaupt von irgendjemandem betreten worden war. ‚Was verbirgt sich in den restlichen Räumlichkeiten?‘, fragte sich Kalus, wie schon so oft. Und wie immer fand er keine Antwort und vermutete, dass es für ewig so bleiben würde.
Endlich wurden Kalus’ Grübeleien von einer Stimme mit der Stärke eines Orkans unterbrochen: „Kalus! Ich habe folgenden Auftrag für dich!“
Wie immer fasste sich der Dämonenlord, der im Verborgenen blieb, kurz und verzichtete auf eine begrüßende Einleitung, auf unnötige Erläuterungen und persönliche Kommentare. Er sprach so mit jedem Dämon, den er zu sich rief, sodass man fast meinen könnte, dass er seine Untertanen gering schätzte. Kalus fühlte sich wie ein Ding behandelt, vor allem, weil der Dämonenlord keine Titel nannte, jede Form des Respektes missen ließ und auch keine Worte des Lobes aussprach, wenn man von einem Auftrag zurückkam. Der Meisterschwertkämpfer schien für den Dämonenlord nichts anderes zu sein als eine leblose Figur auf einem Spielbrett, die man mit ein paar Worten loshüpfen ließ. Dies alles sagte Kalus natürlich nicht laut, dazu war seine Ergebenheit zu groß. Sicher hätte er es auch nicht überlebt. Trotzdem ärgerte ihn diese offensichtliche Arroganz. Irgendwie ironisch: Ein arroganter Felusianer ärgerte sich über Arroganz. Während diese Verärgerung in ihm brodelte, ließ Kalus sich äußerlich nichts anmerken und lauschte den Worten des Dämonenlords, denn dieser würde sich nicht wiederholen.
„Dein Ziel ist die Tötung von Janok, einem der fünf ungleichen Reiter, und seinem Kampfgefährten, dem namenlosen Greif. Falls sich eine günstige Gelegenheit bietet, noch einen oder mehrere der anderen Reiter zu töten, dann tu es. Doch dein wichtigstes Ziel ist Janok. Wage nicht zurückzukehren, solange er noch über Locondia wandelt.“
Ein Auftrag zu einem Mord also, wie Kalus schon viele erteilt bekommen hatte. Gleich würde der Dämonenlord sagen, zu welchem Portal er sich begeben müsse, damit ihn irgendwelche Schattenmagier im Elfenreich beschwören könnten. Bei Beschwörungen handelte es sich eigentlich nur um einen Teleportationszauber, der über große Reichweiten wirkt. Mithilfe der Schattenenergie der Schattenmagier wurde zwischen einem Portal, das in einer Stadt der Dämonen stand, und einem beliebigen Ort ein Korridor geformt. Durch diesen konnten die Dämonen große Entfernungen ohne Zeitverlust überbrücken. Auf diese Art und Weise kämpften die Dämonen an der Seite der Schattenelfen.
Es gab jedoch einen entscheidenden Nachteil: die großen Mengen an Energie, die benötigt wurden. Schattenmagier, die eine Beschwörung auf Befehl des Dämonenlords durchführen sollten, mussten zuvor mehrere Tage in Trance verbringen, um die benötigte Menge an Schattenenergie in ihren Körpern zu speichern. Eine spontane Beschwörung war nur mithilfe von Blutopfern möglich. Weil es sich bei diesen Opfern um Schattenmagier handeln musste, wurde die spontane Beschwörung nur in Notfällen angewendet.
Ein weiterer, auch nicht unwichtiger Nachteil bestand in der nicht ganz zufriedenstellenden Effizienz jener. Bei normalen Beschwörungen konnte entweder eine kleine Gruppe mit höchstens einem Dutzend niederer Dämonen oder ein einzelner großer Dämon beschworen werden. Zu mehr reichte die Energie der Schattenmagier, egal ob vorher angesammelt oder geopfert, nicht aus. Soweit Kalus wusste, gab es nur zwei Ereignisse, bei denen stabile Korridore erschaffen worden waren, sodass ein ganzer Strom an Dämonen sich über den Feind ergießen konnte: bei der ersten Schlacht um Erlin und beim kürzlich erfolgten Angriff auf Goldia.
Kalus zuckte zusammen, als er an diese schmachvollen Niederlagen dachte. Trotz der enormen Kraft und Anzahl hatte sein Volk beide Male verloren. Gegen diese jämmerlichen Oberflächenbewohner, die noch schwächer waren als die niederen Dämonen! Die meisten zumindest … Kalus versuchte, diesen Gedanken zu verdrängen, und freute sich stattdessen auf die ehrfürchtigen Gesichtsausdrücke der Schattenmagier, wenn sie ihn beschworen hatten. Diese waren sich wenigstens ihrer Jämmerlichkeit bewusst.
Jedoch sollte es nicht so weit kommen. Denn statt ihn zu einem Portal loszuschicken, sagte der Dämonenlord: „Unterschätze Janok nicht.“
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