Und so fing es an. Ich weiß natürlich, wie es weiterging, was daraus wurde und wie es endete. Aber weil es eine so schöne Geschichte ist, lass ich sie nicht einfach ausfallen, sondern will sie sehen, noch einmal miterleben. Wenn sich nur nicht diese typisch penetrante, weibliche Neugier wieder dazwischendrängeln würde. Zugegeben, die ist auch bei dem Mädchen mit am Werk, aber das ist eine unbewusste, aus einer ganz kleinen Sehnsucht erwachende, jetzt, wie sie da zum Beckenrand schlendert, ohne bemühtes Suchen.
Aber jene Neugier, die die Putze dort treibt und mir damit den Blick auf das Schwimmbad Kupfermühle verwässert, und noch mehr die von Schwester Angela, die wieder einmal den menschlichen Schutzzaun nicht respektiert, diese Neugier ist es, die mir diese kleine Freude verdirbt. Typisch Frauen!
Musste sie mich denn ausgerechnet gleichzeitig sauber machen? Gerade zu der Zeit, meine ich, als die Reinigungskraft sich über den Ajaxglanz des Bodens freute? Dieses aufdringliche Bild zeigt deutlich, wie makellos, ohne jede Gebrauchsspuren der Belag des Krankenzimmers schillert. Die Frau hat offensichtlich Erfahrung mit menschlichen Resten. Ihr Blick schweift wohl auch deshalb zu den Verrichtungen Angelas. Die Bettdecke hat die schon neben das Bett geworfen. Das verstehe ich. Sie hat mir eine neue mitgebracht. Dass ich ihr nicht behilflich sein kann, weiß sie inzwischen auch. Mit geübten Griffen hat sie die Bereiche an mir freigelegt, die ihrer Bearbeitung bedürfen. Ich könnte ja jetzt auf „zurück“ klicken, aber der mürrische Ausdruck in ihrem Gesicht, die fahrige, fast unwirsche Behandlung meines Unterkörpers fällt mir auf.
Da musste etwas vorgefallen sein, dass Angela ihre sonst stets vorbildliche, glatte Art vorübergehend abgelegt hatte. Wahrscheinlich wieder Ewald! Natürlich wegen Ewald, was sonst! Seine schlechte Laune hatte sich wieder auf sie übertragen. Wahrscheinlich wegen einer übergeordneten Anweisung. Dergleichen mag Herr Mohr gar nicht.
Gerade deshalb kann ich mir das sehr gut, ja geradezu bildhaft vorstellen, seine Reaktion, wie er mit der Mail der „Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben“ konfrontiert wurde.
Ausgerechnet von der Verwaltung hatte Angela die Kopie erhalten, die sie mir unwirsch aufs Bett geworfen hatte. Wäre sie vom ärztlichen Direktor über den Chefarzt an ihn gegangen, den normalen Weg also, der dem medizinischen Sachverstand vorbehalten ist, hätte man sich über notwendige oder nicht notwendige Reaktionen abstimmen können. Aber hier hatte der Assistent der Verwaltungsleitung eine Kopie an Herrn Dr. Mohr weitergeleitet, mit der Bitte um Kenntnisnahme. Ein Kaufmann also, der für Bürotätigkeit zuständig ist. Und der greift in den Heilungsprozess ein!
„Das Haus hat zur Kenntnis zu nehmen, dass unser Mitglied eine Patientenverfügung bei unserer Gesellschaft hinterlegt hat, durch die lebensverlängernde Maßnahmen als unzulässig zu gelten haben“, stand da in der Mail und dass sie die Unterlagen auf dem Postweg zusenden würden. Am meisten ärgerte Angela der Schlusssatz: „Bereits vorab weisen wir darauf hin, dass unsere Gesellschaft autorisiert ist, die Interessen des Patienten zu vertreten.“
„Ist ja lächerlich! Als wenn das nicht von uns geleistet würde!“, meinte sie.
Angela, ich weiß, nein ich fühlte es, Angela war sauer, nicht auf die Verwaltung, sondern auf meine Töchter. Dabei hätte sie es doch ahnen können, dass die sich nicht mit ein paar schnippischen Sätzen abspeisen lassen würden. Natürlich hatten sie die DGHS eingeschaltet, so wie ich es gewollt habe. Und die hatte umgehend reagiert. Und damit begann der Ärger für die Oberschwester. Sie hatte die Aufgabe, den Einwand in die ärztliche Entscheidung des Oberarztes einzubauen, ihm Wirkung zu verschaffen. Er selbst war für die Verwaltung regelmäßig nicht direkt zu sprechen, nur über seine Mitarbeiter, sein Vorzimmer sozusagen.
„Das muss man nicht so wörtlich nehmen“, hatte Mohr gemeint. „Die kennen die aktuelle Lage ja gar nicht. Sollten sich erst einmal schlaumachen. Sag das den Verwaltungsleuten. Wir machen erst einmal so weiter.“
Damit war das Thema für ihn beendet gewesen und sie in einer misslichen Lage. Einerseits hatte sie das Papier von der Verwaltung entgegengenommen. Sie ärgerte sich schon, es getan zu haben. Andererseits entsprach ihre innere Überzeugung natürlich der des Herrn Dr. Mohr. Sie stand zwischen Baum und Borke. Mohrs Antwort, man sehe dem Eingang der avisierten Unterlagen mit Interesse entgegen, mit gleichzeitigem Hinweis auf den ärztlichen Ehrenkodex, die sie weitergab, konnte der Verwaltung natürlich nicht gefallen haben, auch wenn man sie pflichtgemäß an die DGHS weitergeben würde. Der Vorgang würde ordentlich dokumentiert und dem Verwaltungschef zur Kenntnisnahme und zur weiteren Entscheidung ausgehändigt werden. Immerhin war damit Zeit gewonnen. Nur für mich nicht. Und für Angela auch nicht. Die Verstimmung blieb und legte sich wie träger, melancholischer Hochnebel auf das Stationsteam.
Auch jetzt noch, kein bisschen konziliant, geradezu nachtragend, fühle ich ihren unwirschen Missmut. Zusätzlich zum Reinigungsvorgang war es ihre Aufgabe, für die geordnete Entleerung meiner Blase zu sorgen. Das verstehe ich schon. Schließlich konnte ich nicht dem schlechten Beispiel des Penners in der Zelle folgen. Der Abfluss war auch sowohl in meinem Interesse als dem der Reinigungskraft. Die sah den Schwierigkeiten beim Nachschieben des Katheters interessiert zu. Vielleicht überlegte sie auch, ob sie dank ihrer Erfahrung Angela ihre Hilfe anbieten sollte. Jedenfalls verbesserten sich dabei weder Angelas Stimmung noch ihre Sorgfalt noch mein Befinden. Im Gegenteil. Irgendwie scheint es mir, dass Angela seitdem ihre Fürsorge für mich reduziert hat. So, als wenn sie mir böse wäre. Dabei habe ich doch gar nichts getan! Ich gehe lieber wieder aus dem Bild.
Ha! Jetzt bin ich wieder in der Kupfermühle! Das Mädchen springt mit einem Hechter vom Startblock in das Wasser und erreicht damit sogleich die Aufmerksamkeit von Hans, der sich mit seitlichen Bewegungen der flachen Hände auf dem Rücken liegend über Wasser hält. Tellern nennt er das. So hat er eine gute Übersicht über das ganze Schwimmbecken. Das sportlich ins Wasser hechtende Mädchen hat er sofort erkannt und auch, dass sie besser springt, als er es kann. Ganz zufällig treibt er auf die Bahn zu, auf der sie schwimmt. Zu einem Zusammenstoß kommt es nicht. Sie stoppt und lächelt ihm zu.
„Du kraulst gut“, sagt er.
Sie lächelt ihm weiter freundlich zu. „Und was hast du für einen Schwimmstil?“
„Tellern. Wie heißt du denn?“, fragt Hans.
„Killy“, sagt sie.
„Ich heiß Hans.“
Langsam schwimmen sie nebeneinander auf den flachen Teil des Beckens zu. Jetzt, da sie nebeneinander stehen, während sie miteinander sprechen, noch bis zur Brust im klaren Wasser, kann ich sie mir richtig ansehen. Hans ist noch ganz der große Junge in einer knapp sitzenden, hellblauen Badehose, schlank bis mager, nicht die Spur von einem männlichen Rettungsring, unbehaart, flachbauchig, lange Beine und gut gebräunt.
Killy hat auch Farbe, schon etwas rundere Formen und einen braunrot gemusterten Badeanzug an. Er sitzt gut. Nur im Brustbereich etwas locker. Ist wohl auf Zuwachs gekauft. Ihre hellblonden Locken quetschen sich seitlich, lustig und neugierig aus der weißen Badekappe hervor. Die hellblauen Augen sind aufmerksam auf Hans gerichtet.
Er erklärt ihr gerade das Tellern. Dabei müssen sie manchmal in die Knie gehen, die Hände im Wasser, dann aufstehen, dann wieder runter. Nach mehrmaligem Ein- und Auftauchen rutscht das rechte Schulterbändchen ihres Badeanzuges ab. Leider merkt Killy es nicht gleich. In der hektischen Aktivität des Auf und Ab sorgt ihr Oberteil nicht mehr für ausreichende Bedeckung. Hans sieht auf die kleine gewölbte Brust, nicht größer als ein Körbchen, in unschuldigem Schneeweiß mit blass rotem Punkt. Ein leichter Schreck trifft ihn. In seiner Unsicherheit, ungewohnt, eine solche Situation zu meistern, schaut er auf das Geheimnis.
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