Von da ab ging alles ganz einfach. Ich brauchte nur den Menschen zu folgen. Es wurden immer mehr. Man konnte gar nicht mehr raus aus der Menge. Als es dunkel wurde, beobachtete ich, was die anderen machten. Viele hatten ein Quartier, in das sie gingen, einige aber, die im Freien schlafen wollten, hatten eine Unterlage. Ich nicht. Also setzte ich mich etwas abseits mit dem Rücken an eine Mauer, um etwas zu schlafen. Bis jemand an mir rüttelte. Da war es geschehen. Ich war einem von den vielen Aufsehern aufgefallen. Meine Schuhe hatten vorne kein Loch, waren geschlossen, was verboten war für den Ihram, den Weihezustand beim großen Hadsch. Und so landete ich im Gefängnis.
Gleich am ersten Tag hörte ich den Lärm. Eine Gruppe von Männern führte einen Gefangenen in die Mitte des Sandplatzes. Richtiger gesagt, sie schleppten ihn dahin, denn er kreischte, wehrte sich, schrie vor Schmerz, wenn sie ihm die Arme auf dem Rücken noch weiter hochdrehten, damit er in Bückhaltung zur Platzmitte kroch.
‚Er ist dran mit Handabhacken‘, sagte mein Mitgefangener.
‚Warum?‘, fragte ich und starrte durch die Gitterstäbe auf die grausame Szene.
‚Ich weiß es nicht‘, sagte er, ‚vielleicht hat er gestohlen. Unsere Religion schreibt dafür Handabhacken vor. Aber kann auch was anderes sein. Wer die Kirchengesetze nicht befolgt, wird bestraft. Auspeitschen, Handabhacken und so.‘
Mir zog sich der Magen zusammen.
‚Sie machen das immer auf dem Platz da. Damit alle das mitkriegen.‘ Dann sah er nach draußen.
Ein dicker Hauklotz stand dort und ein rostiges Fass, unter dem man ein Feuer gemacht hatte. Einer der Wärter war für das Abhacken verantwortlich. Andere für die Gewalt, um den Gefangenen zu fixieren. Gleich nachdem die Amputation erfolgt war, steckten sie den Arm in das Fass. Das Geschrei des Mannes war nicht zu ertragen. Dann fiel er in eine gnädige Ohnmacht. Ich sah meinen Mitgefangenen an.
‚Da ist kochendes Öl drin‘, erklärte er. ‚Zur Desinfektion. Damit er nicht stirbt. Allah ist groß und mächtig.‘“
„Und was war mit dir?“, fragt der dicke, blonde Matrose aus Husum.
„Ich war auch erst für Handabhacken vorgesehen. Aber dann haben sie mich laufen lassen. Der Agent von unserer Reederei hatte genügend Freunde und was man sonst noch so braucht. Den Hadsch habe ich aber nicht mitmachen können. Ich hab auch nie geglaubt, dass ich das wirklich wollte. Bin ja nur aus Versehen da hingekommen.“
Alfred Wessel ist noch kleiner und schmaler geworden während seiner Lesung. Der Zimmermann, der an der anderen Seite der Back sitzt, schüttelte immer leicht den Kopf. Er steht schon kurz vor der Rente. Jetzt ist es ein deutliches Kopfschütteln.
„Wie viele Verbrechen hat es gegeben im Namen von Religionen seit Menschengedenken? Von Menschenopfern über Handabhacken bis Blendung. Früher brauchte man Götter im Dutzend, um seine Irrtümer zu erklären. Heute genügt einer in jeder Region. Und alle wissen, dass ihrer der einzig richtige ist.“
„Na, nun backt mal ab“, sagt der Bootsmann zu den Decksjungen. „Wir ändern die Welt nicht mehr. Die wartet nicht auf uns. Aber die Arbeit. Es ist Zeit.“
Nun stehen alle auf und gehen aus der Messe. Nur die beiden Jungs sieht man noch Backschaft machen.
Der eine war höchstens vierzehn. Harald hieß der, glaube ich. Aber den hat Hans erst viel später kennengelernt. Hier auf der Straße mit dem Grünstreifen in der Mitte und den neu gepflanzten, biegsamen Alleebäumen ist Hans ja noch ein Junge in ganz kurzen Hosen.
Zum Mädchengymnasium hat er nur gut hundert Meter zu laufen. Ganz oben ist der Gymnastikraum. Man muss erst die mächtige, steinerne Treppe hoch, mit dem abgerutschten Holzgeländer. Jetzt, wo ich die sehe, kommt mir doch die Idee, mich noch mal draufzusetzen, ein halbes Stockwerk runterzurutschen, so wie früher. Aber natürlich ist mir sofort klar, dass das jetzt nicht mehr geht. Außerdem will ich den Jungen sehen, also hoch, nicht runter. Nun muss man durch die breitflügelige Mahagonitür. Moment mal, das ist ganz schön schwer mit dem hydraulischen Türschließer. Ja, hier ist es. Jede Menge Tischtennisplatten.
Hinten in der Raummitte, in der letzten Reihe, da sehe ich ihn. Eine braune, samtartige, kurze Hose hat er an. Sehr kurz, zu kurz scheint mir. Das fällt heute richtig auf: Der größte Teil seiner Oberschenkel ist nackt. Und eng ist sie! Und neu. Leider zu klein gekauft. Aber eine größere dieser Art hatte das Kaufhaus nicht. Und ein anderes Modell konnte seine Mutter nicht aussuchen. Sie hatte in einer Art von Notwehr ihren obersparsamen Mann überlistet, um notwendige Kleidung für ihre Kinder zu besorgen. Die DEBEKA, das deutsche Beamtenkaufhaus, bot einen Kredit in Höhe von fünf Monatsraten an. Da hat sie zugeschlagen, ohne ihn zu fragen. Damit waren Fakten geschaffen. Er musste eine Rate jeden Monat überweisen und sie hatte einmalig für einen Einkauf in Höhe des Fünffachen und für jeden Monat der Rückzahlung wieder den einfachen Betrag zur Verfügung. Deshalb die zu knappe Hose. Er findet sie gut und das ist schließlich die Hauptsache.
Er ist auch gut anzusehen, dort an der Platte, in seinen jungenhaft geschmeidigen Bewegungen. Die Dame, die mit ihm trainiert, mag ihn auch. Das merkt man. Nicht nur, dass er hübsch anzusehen ist. Sie freut sich besonders über seinen bedingungslosen Eifer. So, als wäre das Tischtennisspielen das Wichtigste von der Welt. Er springt von einer Seite der Platte zur anderen, starrt jeden Ball mit weit aufgerissenen Augen an, als wollte er ihn aufsaugen, und nimmt jedes Wort auf, das die Trainerin sagt. Sie ist schon etwas älter, aber sie weiß offensichtlich genau, was nötig ist.
„Ziehen, Hans, ziehen!“
Immer wieder spielt sie ihm den Ball auf seine Vorhand. Hans übt schmettern.
„Ziehen, Hans, ziehen.“
Wenn das man so einfach wäre! Schließlich muss man dabei auch noch den Ball treffen. Und wenn er die Platte verfehlt, rennt Hans los, um ihn zu holen. So schnell wie möglich muss die weiße Kugel wieder auf die Platte, ins Spiel. Nur keine Pause! Seine Welt hat die Größe einer Tischtennisplatte!
Nicht zu vergleichen mit früher, beim Fußball. Das große, schlackebedeckte Sportfeld des Gymnasiums war auch schnell zu erreichen. Nur sein Verein hatte keine Fußballabteilung. Dafür aber Handball. Seiner Mutter war das auch viel lieber. Ihr war der Fußballsport für den geliebten Jungen zu rau. Handball ja, das durfte er.
Die schwarze, kurze Turnhose und das Sporthemd mit kurzen Ärmeln, auch schwarz, aber mit rot abgesetzten Rändern und dem ovalen Vereinsemblem auf der Brust, war das Erste, was er brauchte. Mehr zufällig, der Nähe der Sportstätten geschuldet, war Hans also Mitglied des zweitältesten Sportverein Hamburgs geworden. Und das war eine glückliche Fügung. Alles, was ihm für sein weiteres Leben wichtig schien, baute darauf auf.
Jetzt sieht man, wie er gleich nach der Schule durch die Straßen rennt. Natürlich läuft er wieder. Nicht weil er die Schularbeiten verdrängt hat. Man sieht es ihm an: Sein Bewegungsablauf kennt nur laufen. Jetzt geht er in das Haus dort, den ziegelroten, wiederaufgebauten Wohnblock an der Friedhofstraße, zwei Stockwerke hoch, klingelt und gibt einen kleinen, selbst ausgefüllten Zettel ab.
„Ingo darf doch kommen?“, fragt er.
Die Frau sieht kurz auf den Zettel und bewegt leicht zweifelnd den Kopf.
„Er muss kommen! Sonst sind wir nicht voll!“
„Na gut“, sagt sie und schließt die Tür.
Hans springt die Treppen runter. Dann rennt er erleichtert weiter zur Wandsbeker Chaussee. Auf der anderen Seite beginnt der Neue Weg. Es geht etwas bergab, Richtung Eilbeker Krankenhaus. Aber schon vor dem Eilbektal verschwindet er wieder in einem Wohnblock. Das ist auch gut so, weil mein Bild wechselt. Es wird wässrig, tritt höflich zurück und ein anderes drängelt sich vor. Nicht, dass ich das wollte, nein, meine Augen wollen dahin, zum Eilbektal, genau dorthin, wo die Backsteinkirche steht.
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