Da kommt ein ganz kleiner Junge aus dem Eingang eines vornehmen Altbaus mit gekacheltem Eingang und Marmorgehplatten. Er geht an dem schmiedeeisernen Zaun des Minivorgartens entlang, bleibt an der Straße stehen und schaut auf die andere Seite zum kieselbelegten Vorplatz der Kirche. Er sieht ihn als riesig an. Und die Kirche reicht für ihn bis in den Himmel. Es gibt keine Autos auf der Straße. Der kleine Junge überquert sie, macht die Pforte zur Kirche auf und ist in seiner Welt. Die vielen kleinen Kieselsteine sind seine Spielkameraden. Da hockt er auf dem sandigen Platz, sammelt, verteilt, ordnet und die Sonne und der kirchliche Frieden lassen ihn in seiner Fantasie. Ich weiß, am nächsten Tag konnte er das Tor nicht mehr öffnen, in die Welt des Hausherren passten keine kleinen Steinesammler, nur große, die das Haus Gottes größer und mächtiger werden lassen.
Eigenartig. Mir fällt auf, dass weit und breit keine Ruinen zu sehen sind! Das muss eine andere Zeit sein! Es ist ärgerlich. Warum blenden die Bilder so unordentlich ein? Das kann mein Laptop besser. Nein, auch das Weihnachtsfest dort in dem vornehmen Altbau gehört viel weiter an den Anfang. Die reichliche Bescherung war schon. Das Kleinkind hockt auf dem vornehmen Teppich. Der Hausherr, Anfang dreißig, gut genährt, gute Zigarre, sitzt wohlig im Ledersessel und schaut ihm zu. Eine Spielzeuglokomotive und ein Handwerkskasten liegen auf dem Fußboden. Es ist also ein Junge, der seine Weihnachtsgeschenke ausprobiert. Was man mit dem Hammer macht, hat er schon gesehen. Und das probiert er jetzt an seiner Lokomotive aus. Als die Hausfrau in die Tür tritt, strahlt er sie an.
„Mama.“
Und nun zeigt er ihr, was er gelernt hat. Nimmt den Hammer in die kleine Faust und testet die Standfestigkeit der Blechlokomotive mit zunehmender Intensität. Immer feste druff!
„Aber Hans, nicht doch!“, ruft die Mutter und der Vater sitzt im Sessel und amüsiert sich köstlich über die Tatkraft seines Sohnes.
Schluss jetzt! Ich muss zurück, oder besser gesagt vorwärts, da kommt Hans wieder aus dem Haus in der Neuen Straße. Wieder ist er eine Spieleinladung losgeworden, hat einen Zettel weniger und eine Zusage mehr. Das war das Wichtigste. Er war Mannschaftsführer! Wie alt mag er da sein? Elf oder zwölf, denke ich.
Er hat die Schule gewechselt. Besucht die Mittelschule in Hamm. Auch dort gibt es eine Schulmannschaft, in der er spielt. Aber nur unter ferner liefen. Er hat keinen guten Schuss. Genau ja, sichere Ballbehandlung ja, aber eben keinen Bums! Dafür gab es andere. Peter Sigl zum Beispiel, den Kraftprotz, einen Kopf größer als Hans. Der spielte im Nachbarverein, HT 16, in der ersten Jugend. Die glaubten immer, was Besseres zu sein, weil sie noch älter waren, von 1816, und damit die Ältesten in Hamburg. Die waren so vornehm, dass sie sich gleich nach dem Krieg eine eigene Sporthalle bauen konnten, in der Zeit, als in der Gegend noch viel Gelände in Trümmern lag. Hans trainierte im Winter in der zu kleinen Schulturnhalle am Burgweg oder so ähnlich, irgendwas mit Burg, die ihnen die Behörde stundenweise lieh.
Stopp! Das Bild ist viele Jahre später. Ja, das ist immer noch die gleiche Halle an der, ach ja, Burgstraße heißt die. Aber da ist Hans schon ein junger Mann, ist Trainer der ersten Herren! Zurück! Zurück! Die Zeit davor kann man doch nicht einfach überspringen. Da ist doch noch so viel passiert!
Ja, das Bild passt schon besser. Da, in dem Schwimmbad Kupfermühle, ist er auch schon größer. Sein Haar ist bereits etwas dunkler, fast hellbraun. Aber er tobt noch mit anderen am Beckenrand rum. Er kennt die Jungs gar nicht genau, nur vom Sehen. Sie rennen rum und schubsen sich. Wenn das man gut geht. Einer fliegt rein, noch einer. Dann schubst Hans noch einen rein und fliegt gleich hinterher. Im Wasser geht es weiter. Unterdükern. Hans mischt kräftig mit. Ihn kriegen sie nicht zu fassen. Als sie zu dritt auf ihn losgehen, flitzt er schnell aus dem Becken. Aber die anderen laufen ihm nach. Hans rennt von den Becken weg, um die Tischtennisplatten rum, dann um das Bademeisterhaus, doch sie verfolgen ihn weiter. In der äußersten Ecke, am Zaun, kommen sie von beiden Seiten und ihm bleibt nur die Richtung über die Liegewiese, quer durch die Handtuchlager, immer im Zickzack. An der Hecke ist er schließlich in einer Sackgasse. Mit einer Körpertäuschung versucht er zu entwischen, aber ein schnell ausgefahrenes Bein lässt ihn stolpern und schon werfen sich die drei Verfolger auf ihn.
Hans liegt auf dem Bauch und windet sich. Aber da setzen sich zwei einfach auf seinen Rücken. Der Dritte kniet über den Kniekehlen, die Beine des Gefangenen dazwischen. Hans versucht in den Liegestütz zu kommen, aber die zwei auf seinem Rücken sind zu schwer. Er zieht die Knie an, um den Unterkörper anzuheben. Da holt der Dritte aus und knallt ihm die flache Hand auf das gespannte Gesäß. Ruckartig streckt Hans seine Beine aus und sein Peiniger hockt sich wieder auf seine Kniekehlen. Er macht es sich gemütlich, holt aus und peng landet die Hand wieder auf der gleichen Stelle. Auch die beiden auf seinem Rücken finden Gefallen an dem Geräusch. Schließlich soll auch die andere Seite nicht zu kurz kommen. Also wechseln sie sich ab.
Den ersten Schlag findet Hans nicht so schlimm. Auch den ersten auf der anderen Seite nicht. Er nimmt das Gefühl auf seiner Haut eher interessiert wahr. Sein Gesicht hat noch den Ausdruck von wütendem Grinsen. Auch beim zweiten Schlag ist er noch stark. Er erwartet ihn auf der anderen Seite mit mutiger Genugtuung. Aber dann fängt es langsam an ungemütlich zu werden. Je öfter eine Hand laut klatschend auf seinem Hintern landet, umso stärker wird das Brennen. Hans hat nur noch wenig Bewegungsfreiheit. Er rudert mit den Armen und seine Füße wedeln in der Luft.
„Ah! Hört auf! Ah!“
„Na gut“, sagt der unten Hockende und macht eine Pause. Er ist der Größte von ihnen. Seine Hand streicht über die Backe, für die er sich zuständig fühlt. Er scheint Gefallen daran zu haben und lässt seine Hand über die Rundung wandern. Sein Gesicht bekommt einen freudigen Ausdruck.
„Wir machen nur noch eine kleine Verlängerung, zur Schonung, aber nur eine Hälfte.“ Er grinst erwartungsvoll und zeigt seinen beiden Kumpanen seine Seite an. „Mit Erholung. Immer schön langsam.“
Und nun fangen sie doch tatsächlich wieder an. Peng! Pause. Immer nur auf eine Seite. Peng. Pause. Peng.
„Ah! Aah! Aah! Nicht!“ Hans biegt sich immer mehr, versucht die brennende Seite, so weit es geht, wegzudrehen. Er bietet die andere Hälfte geradezu an. Aber sie wird nicht angenommen.
„Hört auf! Lasst ihn los!“, donnert eine Mädchenstimme. „Ihr sollt ihn loslassen! Ihr seid gemein! Feiglinge! Zu dritt!“
Einen Augenblick wendet sich das Interesse dem Mädchen zu. Das genügt Hans. Die vom Schmerz angestaute Energie verleiht ihm die nötige Kraft. Mit einem Ruck dreht er sich zur anderen Seite, wirft einen Reiter ab und springt auf. Aber er läuft nicht weg. Er sieht das Mädchen an, mit weit offenen Augen. Er atmet heftig, mit etwas geöffnetem Mund, in dem die zusammengebissenen Zähne zu sehen sind, die Mundwinkel auseinander gezogen. Beim Blick auf das Mädchen ändert sich das. Mit auf die Unterlippe beißenden Zähnen und dem sympathischen Bemühen, den Schmerz zu verbergen, schaut er sie an. Die anderen trollen sich.
„Danke“, sagt Hans schließlich, „ich geh baden“, und dreht sich weg. „Bin ja ganz dreckig von dem Gras“, fügt er noch erklärend hinzu.
Ich weiß, er hätte gern etwas netter zu seiner Retterin sein können, aber aus verständlichen Gründen drängt es ihn in das kühlende Nass. Aber ich glaube, da kann noch was draus werden. Aus diesem Erlebnis wächst etwas. Zunächst sein Ärger, dass ein Mädchen ihn aus einer derart erniedrigenden Situation befreit hat. Dieses Bild, das er da abgegeben hat, strampelnd und wimmernd, und das vor einem Mädchen, passt überhaupt nicht zu seinem Selbstgefühl. Aber das ändert sich schnell. Das kühlende Wasser hilft etwas dabei. Aber auch das Mädchen. Es ist getroffen. Es hat in das sympathische Gesicht des Jungen gesehen, in ein Gesicht, das angestrengt den Schmerz vor ihr zu verbergen suchte, und in seine blauen Augen. Ein kleiner Pfeil hat sich in ihr festgesetzt und sie ist lebenstüchtig genug, die Situation nicht ungenutzt zu lassen. Sie geht auch baden.
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