Auch Todors Mutter. Und auch Todors Vater.
Die Eltern ließen den Neunjährigen mit einem ruinierten Glauben und einem gewaltigen Hassgefühl zurück.
Todors Djede starb nur einen Monat später, drei Tage vor Heiligabend, sein Körper und sein Geist waren nicht gewillt, die Trauer zu überleben.
Tage später, mitten in einem kalten Wintersturm, fanden Soldaten der VRS (Vojska Republike Srpske), auch bekannt als »Armee der bosnischen Serben«, den fast verhungerten und völlig verwahrlosten Todor zwischen den Trümmern des ehemaligen Flugplatzes, lethargisch nach der eigenen Vergangenheit suchend.
Der Mann in Uniform stand plötzlich vor dem, was von jenem Kind noch übrig war, er hielt eine Maschinenpistole im Anschlag und schwieg minutenlang.
Der Junge vor ihm saß einfach nur da und hauchte ein Kinderlied durch seine verkrusteten, geschwollenen Lippen. Immer und immer wieder. Eines, das ihm die Mutter so oft zum Einschlafen vorgesungen hatte.
»Spavaj u miru, dete moje …« – Schlaf in Frieden mein Kindchen …
Der Soldat der VRS trug den Namen Stokan Vujasinović. Er setzte sich erst neben das Kind und hörte lange zu. Dann drückte er den Jungen an sich und fragte laut, um das Fauchen des Windes zu übertönen: »He, Junge! Bist du ein Serbe?«
Erst Sekunden später kam die Frage bei Todor an. Er schaute den fremden Mann lange an, betrachtete dessen Waffe, dann die Stiefel, dann das Gesicht und schließlich nur noch die Augen. Letztendlich fiel sein Kopf auf die Schulter des Soldaten, lag darauf wie auf einem wärmenden Kissen. Und die Lippen hauchten in das Ohr des Mannes: »Ich wurde mit Myron gesalbt. Also muss ich wohl ein Serbe sein.«
*
Bereits sieben Monate später war der nun zehnjährige Todor davon überzeugt worden, dass all die muslimischen Bosniaken zweifelsfrei mit den NATO-Mördern unter einer Decke steckten. Ihm wurden immer wieder Geschichten über die Gräueltaten der Kroaten, Bosniaken und NATO-Soldaten erzählt, die unzählige Serben aus ihrer Heimat vertrieben und viele ermordet hätten.
Viele, viele Kilometer führte der Krieg den Jungen von der Heimat fort. Die Einheit, der Stokan angehörte, fuhr immer weiter gen Osten, fast bis zur neuen Grenze zwischen Bosnien-Herzegowina und dem regulären Serbien. Hier gab es ein von Bosnien beanspruchtes Außengebiet der VRS, das von den Vereinten Nationen zur Schutzzone erklärt worden war und von NATO-Soldaten kontrolliert wurde.
Todor lachte übertrieben herzlich und scheinbar zufrieden, als ihm eines Tages Stokan, einer der VRS-Soldaten, in einem Lager ganz in der Nähe von Potočari auf die Schulter klopfte und meinte: »Jetzt werden wir die bosnischen Mörderbanden endlich auslöschen! Ein für alle Mal! Diese verfluchten holländischen NATO-Soldaten scheißen sich ins Hemd. So groß ist ihre Angst. Wir kehren unsere Heimat sauber. Und du darfst uns dabei helfen, Todor.«
Wenige Tage später kam Stokan vorbei und winkte den Jungen zu sich. Todor fuhr daraufhin mit Stokan, dem er vertraute, in einem VW-Bus einem Tross aus Lkws und einem Linienbus hinterher.
Sie standen am Rand eines Wäldchens auf dem Feld, als Todor sich die Ohren zuhielt, denn mehrere ratternde Maschinenpistolen zersägten die nächtliche Ruhe.
Ein Mann, welcher kontrolliert hatte, ob die Gefangenen wirklich alle tot waren, näherte sich. »Da, nimm!«, forderte er plötzlich und reichte dem Zehnjährigen seine Waffe. »Schnell!«
Er zog den Jungen mit sich durch die Dunkelheit. Todor erblickte im Mondschein viele graue Körper von Männern, die mit aufgerissenen Mündern und Augen an Erdhaufen angelehnt saßen oder auf dem Boden lagen. Fast alle regten sich nicht, sie waren vermutlich tot. Todor sah sickerndes Blut, zerschossene Leiber, zerfetzte Köpfe oder aber bleiche Gesichter.
Ein bestialisches Brüllen ertönte! Der Junge sah sich für einen Augenblick um. Ein Radlader mit leuchtenden Scheinwerferaugen näherte sich mit gewaltigem Lärm.
Stokan Vujasinović ergriff Todors Jacke und zerrte ihn mit sich. »Es ist die Zeit deiner Rache! Da kommt schon der Bagger!« Er schob Todor vor sich her. »Hier! Der da!«, sagte er und zeigte auf einen jungen Burschen, welcher heulend seine zerfetzte Wange zeigte, zerrissen von einem Streifschuss, der den Jungen nicht hatte töten können. »Gib ihm den Gnadenschuss!«
Todor legte das Gewehr an die Schulter, entsicherte es und zielte auf den Kopf des Feindes. Er wartete noch, denn Kimme und Korn zitterten. Dann tauchten die Scheinwerfer des Radladers Todor und das Opfer in grelles Licht.
Einen Augenblick lang sah ihn dieser Fremde mit einem bekannten Gesicht an. Die Augen waren voller Schmerz. Er öffnete den Mund, als wollte er etwas sagen. Tränen rannen über sein Gesicht. Er trug eine Jeans und ein buntes Kinder-T-Shirt. Erst jetzt begriff Todor, dass dieser Junge nicht viel älter war als er selbst.
»Denk an deine Eltern und schieß endlich!«, rief Stokan.
Todor schloss für einen Moment die Augen und bewegte den Finger. Der Rückschlag des Kolbens warf ihn fast um. Der andere Junge gab keinen Ton von sich. Er starb einfach.
»Das hast du nun davon!«, brüllte Todor den toten Jungen an. »Du Idiot hast dir die falsche Seite ausgesucht! Das hast du nun davon! Verfluchter Idiot!« Er gab dem Soldaten wütend die Waffe zurück.
Todor stand in der Nähe, als der Radlader Gräben für die Leichen öffnete, diese dann zusammenschob und hineinschaufelte oder überrollte. Er drehte sich um, kotzte sich fast den Magen aus dem Leib, doch echte Trauer verspürte er nicht. Immer wieder sah er die aufgebahrten, verkohlten, zerfetzten und zerquetschten Leichen seiner geliebten Eltern vor sich. Diese Bilder verließen ihn niemals. Sie kamen in den Tag- und Nachtträumen zu ihm. Auch das Bild des flehenden Jungen.
Auch noch, als Todor längst erwachsen war.
»Und das kommt tatsächlich von der NSA?« Sorokin blickte abwechselnd den alten Herrn und die Papiere in der offenen Mappe an.
»So ist es.« Dieser Herr berlinerte unüberhörbar.
»Das sind aber private E-Mails und Telefonate.«
Der Mann vom Bundesnachrichtendienst lief einmal durch den Raum, schob die altmodische Brille zurecht und raunte: »Warum nicht? Nichts spricht dagegen, dass die Nationale Sicherheitsbehörde der Amerikaner so etwas tut. Würden sie darauf verzichten, hätten wir diese Warnung jedenfalls nicht erhalten.«
Die Worte dieses Mannes klangen wie die eines Politikers in den Nachrichten, der die amerikanische Spionage in Schutz nehmen wollte. »Und was habe ich mit der Sache zu tun?« Sorokin war nicht wohl zumute bei der Sache.
»Sie? Sie sind doch aus Russland.«
»Was bitte hat Russland damit zu tun?« Erst schüttelte er das Haupt, dann hob Sorokin die Top-Secret-Mappe an und ließ sie zurück auf den Tisch fallen. »Das hier …«, er schaute abermals auf den oberen Zettel, »… spielt in Jugoslawien.«
»In Kroatien«, verbesserte der BND-Mann. »Jugoslawien gibt es bekanntlich nicht mehr. Kroatien können wir getrost als unser Handlungsgebiet bezeichnen. Und außerdem … Wir haben keinen besseren Mann als Sie gefunden. Das sollte Ihnen eine Ehre sein.« Er drehte wieder eine Runde durch das Büro. »Davon abgesehen: Die Ameise hat eine Familie, ein leicht südländisches Aussehen und reichlich Erfahrung.«
Die Ameise – das war Sorokins Pseudonym in SEK-Kreisen – beobachtete den alten Herrn, dem es dem Aussehen nach nicht schlecht zu gehen schien. »Was soll das heißen? Sie wollen meine Familie benutzen?«
»So ist es«, antwortete der Mann skrupellos.
»Das kann ich nicht zulassen.« Sorokin erhob sich jetzt. »Tut mir leid.«
»Nehmen Sie sofort wieder Platz!« Die tiefe Stimme schlug zu wie ein Befehl. Eine kurze Pause entstand, während dieser Mann in einem Kalender blätterte, ohne etwas finden zu wollen. Die Luft im Raum stand still. Sorokin ließ sich zurück auf den Stuhl fallen und wartete. Jetzt setzte sich der alte Herr ebenfalls auf einen Stuhl, allerdings auf der anderen Seite des Schreibtisches, drehte die Mappe zu sich herum und entnahm ihr einige Dokumente. »Vertrauen Sie mir. Ihre Familie hat damit nichts zu tun. Sie wird in Kroatien Urlaub machen wie tausende andere Familien, die dafür viel Geld bezahlen müssen. Sie fliegen gemeinsam mit Frau und Kindern nach Zadar, wohnen in einem erstklassigen Hotel und nehmen ganz allein Kontakt zu einem Mittelsmann auf, welcher Sie in die Nähe des Verdächtigen bringen wird. Sie werden sehen, Ihre Familie wird Ihnen für die schönen Tage dankbar sein. Und außerdem sind Sie der Bundesrepublik Deutschland noch einen Gefallen dafür schuldig, dass wir Sie und Ihre eingewanderte Familie so nett aufgenommen haben. In anderen Nationen zählen Ameisen zu den unerwünschten Parasiten.«
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