„Sie wissen nichts von ihren Wunden“
Wie Albträume den Alltag von Flüchtlingen beherrschen
Eine Nacht kann ein ganzes Leben verändern. Eine einzige Nacht. In ihr bricht alles zusammen, was Menschen Halt gegeben hat. Der sanfte Rhythmus des Arbeitstages. Der Schutz durch die eigenen vier Wände. Das Vertrauen in die eigenen Kräfte. Die Gemeinschaft mit den Nachbarn. Mounir Hanna und seine Familie haben das alles am eigenen Leib erfahren, und je länger er darüber spricht, desto größer wird der Abgrund, vor dem er nun steht.
Bis zum letzten Moment krallten sie sich fest an einem Leben, das ihnen zwar keine Reichtümer, aber Geborgenheit bescherte. Bis zuletzt weigerten sie sich, das Undenkbare zu denken. Selbst als der Donner von Geschützen dem Städtchen Bartella immer näher kam, hielten sie aus und glaubten fest daran, dass sie nicht im Stich gelassen würden. Es gab in der Ebene von Niniveh Tausende von irakischen Soldaten. Es gab Tausende von kurdischen peshmerga , „die dem Tod ins Auge sehen“, wie ihr stolzer Name sagt. Es gab 500 ehrenamtliche Kirchenschützer, von denen jeder immerhin eine Kalaschnikow hatte. Wozu waren denn diese Bewaffneten da? Sie würden doch die daesh in die Flucht schlagen, oder? Wenn nicht jetzt – wann dann?
Dann aber sahen Mounir und seine Familie fassungslos, dass all diese Uniformierten selber die Flucht ergriffen. Die vermeintlichen Verteidiger spürten ganz offenbar, dass sie der Waffentechnik und dem fanatischen Kampfgeist der islamistischen „Gotteskrieger“ nicht gewachsen waren. Es war die Nacht vom 6. zum 7. August 2014, in der die kleine, scheinbar gesicherte Welt der Familie von Mounir Hanna binnen weniger Stunden unterging.
Sie sahen, dass alle Christen, bis dahin die Mehrheit der Einwohner, in wilder Angst ihre Sachen packten. Selbst die Kirchenschützer rannten davon und gaben die ihnen anvertrauten Gebäude auf, die seit Jahrhunderten das Gesicht von Bartella geprägt hatten: Gotteshäuser der Assyrischen Kirche des Ostens, der Syrisch-Katholischen und der Syrisch-Orthodoxen Kirche. „In diesem Moment wurde uns klar, dass uns niemand mehr schützen würde“, sagt Mounir. „Wir gehörten zu den Letzten, die ihr Haus aufgaben. Aber uns blieb keine andere Wahl. Nur einen Tag mehr, und wir wären verloren gewesen.“ Sie rafften gerade mal das Allernötigste zusammen: Ausweise, Schmuck, ein paar Kleidungsstücke. „Wir hatten gar keine Zeit, um noch mehr einzupacken“, sagt der 55-Jährige. „Wir hätten auch gar keinen Platz gehabt, um viele Sachen zu transportieren.“ Fünf Menschen zwängten sich mit Beuteln und Taschen in Mounirs Auto. Sie wollten nach Erbil, in die Hauptstadt der Autonomen Region Kurdistan, wo sie sich die Rettung erhofften. So wie sie dachten in jener Nacht Tausende christliche Familien, die in der Niniveh-Ebene lebten, jener biblischen Region, in der laut Überlieferung der heilige Judas Thaddäus das Evangelium gepredigt hatte.
Ein endlos langer, chaotischer Blechwurm wälzte sich durch die Dunkelheit. Peshmerga , die ihn eskortierten, schossen ab und zu Salven in die Luft, um den Weg frei zu machen. „Nach Erbil haben wir normalerweise nicht mehr als eine Stunde gebraucht“, sagt Mounir. „Diesmal aber waren es neun Stunden.“
Traumatische Erlebnisse, die von Menschen verursacht werden, sind viel schwerer zu behandeln als traumatische Erlebnisse als Folge von Naturkatastrophen. Den Opfern wurde das Grundvertrauen tief erschüttert oder ganz genommen, das für einen erfolgreichen Umgang mit anderen Personen nötig ist. Opfer von Krieg und Terror leiden in der Regel an Schlafstörungen, Nervosität und Gereiztheit; sie müssen oft erst durch Medikamente stabilisiert werden, ehe sie überhaupt behandlungsfähig sind. Traumatisierte gehen mit ihrem Leid sehr unterschiedlich um: Die einen suchen Zurückgezogenheit und Ruhe, andere möchten möglichst viel darüber sprechen. Erfahrungen zeigen, dass Traumata sehr lange nachwirken – ja sich im höheren Alter meist wieder verschlimmern.
An der Grenze zu Kurdistan mussten sie den Wagen stehen lassen, denn die peshmerga hatten Angst, dass in dem Treck auch Autobomben eingeschmuggelt würden. Kurdische Helfer luden sie auf Pick-ups und brachten sie endgültig außer Reichweite der Kanonen. In Ankawa, der christlichen Vorstadt von Erbil, campten die Flüchtlinge in Parks und auf offener Straße. Nun sind sie in Kirkuk gelandet, in einem Notquartier, das Bischof Faris Mansour Yacoub von der Syrisch-Katholischen Kirche zur Verfügung gestellt hat.
Mounir versucht sich zusammenzureißen. Sabirha, seine 53-jährige Frau, bricht bei jeder Station des Leidenswegs, den er erzählt, aufs Neue in Tränen aus. Shama, seine 85-jährige Mutter, starrt die ganze Zeit stumm vor sich hin. Sabina, seine 61-jährige Schwester, und Nur, seine 18-jährige Tochter, nicken ab und zu mit den Köpfen.
Fast zwei Millionen Menschen – Christen, Jesiden und Muslime – sind seit 2014 in die Gebiete unter kurdischer Kontrolle geströmt. Im Raum Dohuk kamen schätzungsweise 600.000, im Raum Erbil 400.000, im Raum Kirkuk 500.000 Flüchtlinge unter. Sie leben zusammengepfercht bei Freunden und Verwandten, in Wohncontainern und angemieteten Häuserblocks, manchmal sogar in zweckentfremdeten Kirchenräumen. Wie viele halten auf Dauer dieses Dasein aus?
Ich bin mit Yousif Salih, einem Psychotherapeuten, in Kirkuk unterwegs. Die Stadt gehört nicht zur Autonomen Region, wird aber von den Kurden beansprucht und derzeit kontrolliert. Die IS-Front ist ziemlich nahe, die Ölfelder sind ständig in Gefahr. Das äußere Elend der Flüchtlinge, das wir sehen, ist nur die Oberfläche des Problems. Viel schwerer ist es, ins innere Elend zu blicken. Salih hat versprochen, mir ein wenig zu helfen.
„Die meisten Flüchtlinge wissen nicht, dass jeder und jede ein Trauma hat“, sagt Salih. „Väter prügeln ihre Kinder, Brüder und Schwestern schreien sich an – ohne zu wissen, welche Wunden sie in der Seele tragen.“ „Gibt es ein Entrinnen aus einem Trauma?“, frage ich ihn.
„Es ist ein langer und schwerer Weg“, antwortet er. „Wir Therapeuten dürfen nie versuchen, solche Menschen zum Reden zu bringen. Wir müssen Geduld haben. Es muss aus ihnen selber herauskommen.“
Salih leitet in Kirkuk das lokale Büro der Stiftung „Jiyan“ (Leben). Sie wurde 2003, nach dem Sturz des Diktators Saddam Hussein, gegründet. „Das war die Zeit, in der radikale Muslime anfingen, die Dolmetscher umzubringen, die für die US-Invasoren arbeiteten. Wir wagten es damals nicht einmal, uns irgendein Symbol zuzulegen. Wir wollten überparteilich arbeiten und es uns mit keiner Seite verderben.“ Heute betreiben sie im Irak neun Behandlungszentren mit 75 Therapeuten, 12 davon sind in Kirkuk tätig.
Die christlichen Assyrer, sagt er, seien anders als die muslimischen Kurden; im Gegensatz zu denen seien sie keine Kämpfertypen und hätten sich meist wehrlos in ihr Schicksal ergeben. Eine Gruppentherapie wie etwa mit den Jesiden funktioniere mit Christen nicht. „Im Irak waren sie so etwas wie eine geschlossene Gesellschaft“, sagt Salih, „offen zeigten sie sich nur in Richtung Westen. Sie fühlten sich immer bedroht, so haben sie sich eingebunkert im Lauf der Geschichte.“
Jahrhundertelang haben im Orient Stammesbindungen das Leben der Araber geprägt. Bei den Assyrern, die immer mehr zur Minderheit wurden, war es der Zusammenhalt im Dorf oder im christlichen Viertel einer Stadt. „Man war nie allein, wenn etwas Schlimmes passierte“, sagt Salih. „Immer kam die ganze Gemeinschaft zu dir: Nachbarn, Freunde und Verwandte, um das Leid mit dir zu teilen.“ Jetzt, nach Flucht und Vertreibung, zeige sich die Kehrseite dieser Medaille. „Die Menschen treffen sich in ihren Notquartieren, um gemeinsam ihr Schicksal zu beklagen. Durch dieses ständige Jammern ziehen sie sich gegenseitig aber noch mehr runter. Traumatisiert, wie sie sind, machen sie ihr Drama immer größer und immer schmerzlicher – und meist sind halt keine Psychotherapeuten da, um gegenzusteuern.“
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