Das ist so lange her. Erzählt hat mir das mein Onkel, der Seefahrer-Paule“, sinnierte Opa. Den Rest des Weges schwieg er eisern. Lächelt vor sich hin und war vollkommen in seiner Gedankenwelt versunken. Ich legte meine Hand auf seine Schulter und war berührt von seinen Geschichten, die ich nicht verstand.
Opa war bis ins hohe Alter scharf wie Pfefferchili. Zum Schluss war da wohl nur noch der Wunsch der Vater der wollüstigen Gedanken. Und gab es Familienfeiern, ging Opa mit seinen immer noch schönen Händen gern auf intime Tuchfühlung bei seinen Tischdamen zur Linken oder zur Rechten. Die waren meist im knackigen Alter jenseits der achtzig. Und dann kam es schon mal vor, dass jene Mädels entsetzt aufsprangen, dabei scheppernd die gefüllte Sammeltasse mit sich rissen, deren brauner Inhalt nun gierig von weißem Linnen, statt von den Tanten aufgesogen wurde. Laut zu schimpfen oder anders wie zu räsonieren, wäre peinlich aufgefallen. Also begnügte man sich mit gedämpft wütendem Gebrabbel und wechselte verschämt das Thema sowie den Platz. Großvater störte das nicht weiter. Nur die ewigen Misserfolge bei seinen Eskapaden, die störten ihn sehr. Einen schönen Eklat gab es an seinem fünfundneunzigsten Geburtstag. Menschenmengen drängten sich in den engen Zimmern, vor allem alte Tanten. Alle verfügbaren Räume waren von auswärtigen Schlafgästen in Beschlag genommen. Der Belegungsplan der Betten wurde notgedrungen umdisponiert. Jeder ruhte irgendwo, aber in jedem Falle an anderer Stelle als gewohnt. Als alles schlummerte, schlich Opa hochmotiviert aus seiner Kammer, die er nun so viele Jahre allein bewohnte. Er hatte eine fesche Mittachtzigerin ins Visier genommen, kuschelte sich neben sie – und bekam die Hand seines nicht sonderlich geschätzten Schwiegersohns zu fassen… Meine Tante dachte ernstlich über eine stählerne Strafexpedition nach. Aber da hatte mein Opa letztlich nichts zu befürchten, denn seine beiden Töchter haben beide ein Herz aus Gold.
Schule war schön, schön doof
Mein Schulpensum erledigte ich mit links, bei mittlerem Fleiß. Ein gutes Pferd springt nur so hoch, wie es eben muss! Ich lernte schnell und vergaß noch schneller. In meinen Lieblingsfächern hingegen konnte ich richtig engagiert loslegen und begeisterungsfähig zu Höchstleistungen auflaufen. In allen möglichen Arbeitskreisen, Clubs und sogar in der Blaskapelle mischte ich als untalentierter Posaunist mit. Das machte mir meistens Spaß und eine gehörige Portion Geltungsdrang spielte wieder eine Rolle. Die Posaunisten-Karriere hätte ich aber gern wieder an den Nagel gehängt, weil die mit Umständen verbunden war. Bis zur unerquicklichen Probe musste ich zwei geschlagene Stunden mutterseelenallein im Schulgebäude warten. Mein Blasmusiklehrer hatte es wohl gut gemeint und mir Mittagessen bei der Hausmeistergattin vermittelt. Bei ihr herrschte Hemdsärmelkultur und es war so schmuddelig, dass es mir die Graupensuppe nicht nur verhagelte, sondern sie mir auch noch im Halse stecken blieb. Saß eins von der Horde ihrer Kinder auf dem Topf, um sein großes Geschäft angestrengt zu verrichten, nahm die stramme Frau den angeschissenen Balg nach Erledigung schwungvoll von der mobilen Toilette und pflanzte den nackten Kinderarsch ohne Reinigungsritual direkt neben meinen Teller auf die glatte Wachstuchdecke. Das verursachte jeweils einen unreinen Ton, und erinnerte mich an mein Posaunenspiel. Nun wunderte ich mich nicht mehr über das komische Dekor auf dem Tischtuch unter meiner Suppenschale. Mahlzeit!
Bei meinen Lehrern war ich beliebt und verhasst zugleich. Von meinem Darstellungsdrang und von Kumpel Alex zum ständigen Wettstreit animiert, gaben wir die vorlauten Klassenkasper im ehrgeizigen Duett. Meine Mitschüler freuten sich, die Pauker weniger. Unter heutiger Beurteilung der Lage, hätte ich bestimmt eine Belobigung für vorbildliches Betragen erhalten, denn eigentlich waren wir nicht wirklich arg. Und irgendwie hatte ich durch meine lebenslustig-offene Art letztlich bei meinen Lehrern einen Stein im Brett. Waren Schulfeste, Wettbewerbe oder sonstige Öffentlichkeitsarbeiten angesagt, wurde ich von ihnen gern zum Spitzenkandidaten nominiert, erfüllte dann zuverlässig Auftrag und Mission. Dennoch blieb das Klagelied bei meinen Eltern über mein fürwitziges Verhalten nie aus, genauso wenig wie die darauffolgende Gardinenpredigt meines Vaters. Als Papa meine gesammelten Missetaten mit meiner Mutter in Wiederholung durcharbeitete, hörte ich sie einmal sagen: „Herrgott, wär‘s dir denn lieber, er wär nur artig, aber dämlich?“
Frau Tritsche und ihr Ehemann waren herausragende Persönlichkeiten, vor allem in Höhe und Breite, und beide meine Lehrer. Frau Tritsche hätte das lieber lassen sollen, denn von ihrem Lehrfach Mathematik und von Kindererziehung verstand sie nicht mehr als ihre Schüler. Das wäre nicht weiter schlimm gewesen, aber bei alldem kompensierte sie ihre enorme Unsicherheit auf unsere Kosten. Sie war gemein und das verzeihen Kinder nicht. Frau Tritsche verpasste uns dümmliche Spitznamen, versuchte es mit Ironie, was stets misslang. Obendrein war sie ganz schrecklich naiv und provozierte Lachgeschosse aus den Bänken. Frau Tritsche verteilte ungerechte Noten und konnte selbst nicht gut rechnen. Ihr Mann, der einflussreiche Funktionär, hatte sie protegiert. In den Pausen zermalmte sie dick belegte Doppelstullen, klemmte dabei tief gebeugt überm Lehrertisch. Also, summa summarum: alles ein bisschen zu viel des Guten. Wir hassten sie nicht, aber ihre Art, uns zu begegnen, wohl.
Tritsches wohnten auch in unserem Dorf und waren ausgerechnet mit meinen Eltern und Verwandten so was wie freundschaftlich bekannt. Letzten Endes nur deshalb, weil das Lehrerehepaar, die allgemeinhin keine Freunde hatten, sich zu Festlichkeiten gern selbst einlud. Das taten sie auch zum fünfundvierzigsten Geburtstag meiner Tante Erika, einer Frau, wie meine Mama, angefüllt mit Herzenswärme. Als alle an der reich gedeckten Tafel Platz genommen hatten und bestens gelaunt mit vollem Munde kauten, holte Frau Tritsche tief Luft zu einer höchst erbaulichen Tafelrede. Ich stutzte sofort! Was würde jetzt wohl kommen? Dann ging‘s los: Vor der versammelten Gästeschar erläuterte sie voller Empörung meine jüngsten Verfehlungen und gab das letzte Wortgefecht, das ich auf dem Pausenhof mit ihr hatte, detailgetreu zum Besten. Zu meiner Verwunderung verwendete sie wörtliche Redeteile erstaunlich präzise, zitierte mich und meine frechen Antworten akkurat. Nur an einer Stelle war sie nicht ganz exakt mit den Zitaten, ich verzichtete auf Einwände und Korrektur. Mir blieb der Bissen quer im Halse stecken, denn so viel taktlose Blödheit, hätte ich selbst ihr nicht zugetraut. Die Miene ihres Mannes verfinsterte sich missbilligend, die meines Vaters moralinsauer! Augenblicklich litt der unter einer doppelseitigen Gesichtslähmung. Enttäuscht von mir, schaute auch mein Bruder, kopfschüttelnd und mit ernstem Gesicht an der Nase runter. Für alle eine Qual, außer für Frau Tritsche. Grabesstille am Tisch! Und dahinein stellte die Pädagogin nun noch die abschließend intelligente Grundsatzfrage ihrer Aufmunterungsrede, mit dem Bezwecke der rückversichernden Bestätigung durch die betreten lauschende Corona: „Was sagt ihr dazu, war das von Thomas nicht wieder furchtbar frech?!“ Noch immer Totenstille!. Bis schließlich mein erwachsener Cousin Michael die unerquickliche Situation rettete und sichtlich amüsiert schallend loslachte. Ich war ihm so dankbar. Für mich hingegen gestaltete sich der weitere Festakt so lustig wie die Beulenpest und ward vorfristig beendet, weil mich Papa zuerst in die Wüste und dann nach Hause schickte.
Herr Titsche nebst Gattin schreckten auch nicht davor zurück, sich im gesamten Dorf der Lächerlichkeit preiszugeben. Bei klirrend-eisigem Winterfrost fror der See zu und wir hatten nun ein beliebtes Tummelfeld für blutrünstige Eishockeyturniere. Tritsches in ihrer immensen Leibesfülle waren beide des Schlittschuhlaufens nicht mächtig, sie aber ignorierten das. Auf wackeligen Holländerkufen, die an klobigen Skischuhen festgekurbelt waren, schob der Gatte seine Holde über die Eisesglätte. Die bebte unsicher. Wir konnten uns vor Lachen kaum auf den Eisen halten, als Herr Tritsche unerwartet bei unserem Wettkampf mitwirken wollte. Na gut, warum nicht? Nachdem er seine liebe Frau an Land geschoben hatte, wurde unser dicker Lehrer augenblicklich zum Eishockey-Tormann befördert. Diesen gefährlichen Knochenjob wollte eh niemand gern machen. Keinesfalls erpicht auf blutende Sportverletzungen, spielte ich zurückhaltend in der Verteidigung. Spielregeln gab es nicht, dafür umso mehr kämpferischen Einsatz und Verletzte auf allen Seiten durch die äußerst primitiven Sportgeräte. Ich verfügte über eine knochige Krücke, die mein Vater mit Eisenblechen stabil zusammengeschraubt hatte. Die lag schwer wie Blei in meinen Händen. Einerlei, wir legten los. Hinter mir der schnittige Torwart seinem Einsatz entgegenfiebernd und unruhig auf den nächsten Angriff der jugendlichen Gegenpartei wartend. Die Attacke nahte, ich wollte abwehren, stolperte los und kam ins Straucheln. Dabei drehte ich mich mehrfach ungestüm um meine eigene Achse und haute im finalen Sturz dem Pädagogen und Aushilfstorwart meine Eishockeykeule mit Schmackes vor den Schädel. Als ich mich wieder aufgerappelt hatte, sah ich erschrocken, dass unser bester Mann wie ein geschossenes Walross längelang im Tore lag und sich nicht mehr rührte. In Rückenlage hatte der dicke Lehrer alle Viere weit von sich gestreckt. Seine graue Schiffchenmütze, russisches Prêt-à-porter, hatte ich mit weggeschossen. Die lag zehn Meter weit hinterm Tor. Wir näherten uns dem Niedergemähten, so bange, als hätten wir eine schwere Fliegerbombe aus dem Krieg entdeckt. Und siehe da, er atmete noch.
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