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2. Auflage 2015
© dorise-Verlag Erfurt, 2014
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks,
der fotomechanischen Wiedergabe
und der Übersetzung, vorbehalten.
Titelfoto: privat
Typografie und Titelgestaltung: Regina Gerbracht
Druck: docupoint GmbH
ISBN 9978-3-942401-80-7
F. m. M.
Uli Grunewald
Bravourös
in die Suppe gespuckt
Inhalt
Das erste Entsinnen
Herr Ulbricht versprach, keine Mauer zu bauen
Mannis Vater war Gendarm und eine gefährliche Drecksau
Onkelchens Jähzorn war bemerkenswert für einen heimlich Schwulen
Kaltlächelnd trennte die schicke Frau den Kopf vom Rumpf
Papa sah aus wie ein UFA-Star
Mit zehn Jahren rauchte Alexander konsequent auf Lunge
Bitterlich weinend neben dem gefallenen Pferderiesen
Fast zu Tode stranguliert
Auswurf in der Suppe
Opa war eine Respektsperson und bis ins hohe Alter scharf wie Pfefferchili
Schule war schön, schön doof
Schiss vor dem widerlichen Geruch des Todes
Ausmarsch – nun soll aus mir was werden
Papa mahnte, ja nichts mit einer Rothaarigen anzufangen
Johann sah aus wie George Cloony für ganz Arme
Wie Felix, der Glückliche
Lehrer sein machte Spaß, dann kam die Lärmphobie
Schulwechsel bravourös, bravourös daneben
Vom Kellerarbeiter zum Wohlstandsbürger
Leichenteile schwammen in der Badewanne
Geistiges Vakuum gesucht
Prominente, Nutten und Paris
Beinahe hätte es den ersten DDR-Clochard gegeben
Als Unternehmer rechtlos und schwerelos
Von rosaroten Schweinchen, mausetoten Autofahrern und anderen Katastrophen
Grüne Entenscheiße in weißer Dauerwelle
Volle Pulle Westen
Michael Dougles ganz kitschig und Tina Turner ganz traurig
Italien sehen und beinahe sterben
Dieses Auto besaß eine Seele
Rudis Ohrfeige war kräftig gesetzt und sehr berechtigt
Marlies wollte keine Liebe, sondern Sex
Ein Goldesel für mich, eine Wasserleiche für die Bildzeitung
Mit seinem Vorschlaghammer wollte er mich kaltblütig erschlagen
Schnick-Schnack-Schnuck in einer Klapsmühle
Kackfrech mein Drehbuch geklaut
Endlich beim Fernsehen
Eine dicke Kameradschaft, die in einem noch dickeren Desaster endete
Beim MDR geschasst
Tante Inge fraß sich zu Tode, dann krachte ihr Häuschen zusammen
Gabi, Patrik, Porno-Dieter und schlechtes Benehmen
Am besten traumhaft
Das größte Wagnis meines Lebens
Multimillionär mit zehn Millionen Miesen
Auenland wird Wirklichkeit
Auf Pazific-Island gab es Slipeinlagen als Stirnband
Um ein Haar hätte Lonzo auf die weißen Schuhe von Mario Adorf geschissen
Ein El Dorado
Als mein Auenland vollendet war, empfand ich das als surreal
Schockstarre
Der Wind blies eiskalt von vorn
Es brach der Pool, das Wasser lief davon und ich am liebsten auch
Fatstorm
Onkel Christian saß vor uns im Rollstuhl, Fernseh-Gottschalk stand hinter uns in Malibu
Wir hatten abgemacht: Wenn, dann nur im Swinger Club
Der Chef der Pavian-Horde zerfleischte ihm das Gesicht
Alles Verloren. Meine Existenz und mich selbst
Chinesen sind eine eigentümliche Spezies
Wenn um dich herum Sämtliches implodiert, ist dein Leben wohl zu Ende
Perdu! Und fröhlich klingt der Schlussakkord in Moll
Uli Grunewald
Wer immer tut,
was er schon kann,
bleibt immer das,
was er schon ist.
Henry Ford
Ich kann es nicht glauben. Ich kann es einfach nicht glauben. Ich sitze im Knast. Ich, der kluge Junge, der ideenreiche Schöndenker, der findige Geldmacher, der redegewandte Sympath. Ich, das rücksichtslose Muttersöhnchen, angefüllt bis zum Stehkragen mit Widersprüchen und Unstimmigkeiten. Ich, Ich, Ich, die vielen Ich`s, immer wieder. Zu viele in meinem ruinierten Leben.
Seit zwei Tagen bin ich in Untersuchungshaft. Ob ich verurteilt werde, ist ungewiss. Vielleicht gibt es nicht einmal eine Verhandlung. Wer weiß? Mein Anwalt ist keine große Nummer, dafür zuversichtlich. Ich glaube, ich habe Tränen in den Augen. Ich schließe sie und spüre kleine Rinnsale auf meinen Wangen. Zwei kühle Striche. Ich schlucke. Vor Selbstmitleid tut mir der Magen weh und weil ich an Mama denke. Sie weiß nicht, wo ich bin. Nun ist sie alt, doch ihre Güte und Lebensklugheit haben sie nicht verlassen. Sie liebt die Menschen und sieht in ihnen nur das Gute. Wie soll sie das verkraften, wie soll sie diesen Kummer und diese Sorge um mich ertragen. Um ihren Sohn, den sie über alles liebt und der ihr Lebensinhalt ist. Ihr Sohn, dieser Idiot, hat so viel gewonnen und am Ende jegliches verloren. Dass ausgerechnet ich dieser Idiot bin, ist schwer auszuhalten. Wachte ich früher aus einem Albtraum auf, fühlte ich Erleichterung. Heute ist das nicht mehr so, weil die Wirklichkeit noch schlimmer ist.
Meine Vorfahren wurden ausnahmslos steinalt und deren eisenharte Gene bescherten mir bislang die mustergültige Gesundheit. Heute, am 22. November 2012, eingesperrt und Mitte Fünfzig, spüre ich das erste Mal meinen Körper. Ohne Schmerzen und ohne erkennbare Symptome fühle ich mich krank. Nun sind alle vorwärtstreibenden Kanten abgeschliffen. Ich hasse Larmoyanz, jetzt muss ich sie selbst erdulden. Sie hat mich aufgesogen wie ein Strudel, in dem man rettungslos versinkt. Jene innere Stimme, die schönreden und helfen könnte, schweigt unerbittlich. Gegen Gewissheit kommt sie nicht an. Gewiss ist, dass ich in Gewahrsam und verloren bin. Mach dir das klar, mein Lieber. Du hast deine Zukunft hinter dir.
Nun meldet sie sich doch, jene Fachabteilung meiner inneren Stimme, die zuständig ist für Dur und Zuversicht. Nur zaghaft versucht sie ihr Glück. Will sich Gehör verschaffen. Vielleicht wird am Ende doch noch irgendetwas gut. Stets habe ich einen Weg gefunden. Auch wenn die Dinge sich noch so derb gegen mich wandten, konnte ich sie zuletzt doch zu meinen Gunsten fügen. Und gestern, war das etwa jener Schimmer, nach dem ich verzweifelt Ausschau halte. Gestern, wie merkwürdig unwirklich das war. So kurz nach meiner Überstellung erschien in meiner Zelle gegen Abend dieser mir fremde Mensch. Ich verstand nicht. Wegen meiner Verwirrtheit, Niedergeschlagenheit und Verzweiflung nahm ich ihn zunächst nur wie im Nebel wahr. Alles schien verschwommen. Doch die Bestimmtheit seiner Worte, ließ die Eintrübung verschwinden.
Tim Strelow stellte sich mir als Journalist sowie Drehbuchautor vor und arbeite außerdem als Kunterbunt-Lektor für Buchverlage. Ich war noch von den Ereignissen wie benommen, als der achtsam eröffnete, ich solle mir keine übergroßen Sorgen machen, weil er mir helfen könne. Er fragte mich, ob ich ihn nicht kennen würde, schließlich seien wir mal so etwas wie Kollegen und später wäre er oft Gast bei mir gewesen. Nur aus dem fernen Irgendwo kam mir sein Gesicht bekannt vor. Aber ich erinnerte mich nicht. Komisch, sonst merkte ich mir doch jede Visage, das Einzige, was ich mühelos und wie von selbst nachhaltig zu speichern vermag. Der Mann sah blendend aus. Mit vielleicht Mitte vierzig war sein dunkles Haar leicht von Grau durchzogen und makellos in Form gebracht. Noch im Dämmerschein meiner Zelle leuchteten seine auffallend blauen Augen, ein gepflegter Schnauzbart verlieh seinen markanten Gesichtszügen Manneswürde. Und über dem schwarzen Jackett trug er einen auffällig gebundenen Schal. Sind Männer attraktiv und ohne schwule Attitüden, dann gestatte ich mir durchaus den Gedanken, auch an anderen Ufern spazieren zu gehen. Tim Strelow war auffallend gut aussehend. In meiner Lage über derlei Neigungen zu reflektieren, war absurd, lachhaft und so unglaublich wie alles im Moment.
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