Sein Gesicht schien entspannt und dennoch konzentriert. Als er sich nah zu mir beugte und mit ruhiger Stimme eindringlich sprach, ruhte sein Unterarm auf der kühlen Knasttischplatte. Die trennte und einte uns zugleich: „Herr Grune, Sie wundern sich bestimmt über mein unvermitteltes Erscheinen, aber lassen Sie es mich bitte so erklären: Ich will die Chronik vom Ende des vergangenen und vom Anfang unseres Jahrhunderts neu erzählen. Schablonen und tausendfach Gesehenes interessieren mich nicht. Ich möchte aus anderer Sicht und Perspektive den Zeitgeist nachempfinden. Es geht darum, Geschichten auszumalen, sie abzubilden und unterhaltend zu erzählen, möglichst ironisch frech. Ich bin auf der Suche nach einer neuzeitlichen Eulenspiegelei. Den markanten Protagonisten jener Tage will ich ins Leben rufen. Mit Witz, hintersinnigem Humor, aber nicht unernst. Und vor allem ohne Zeigefinger, keine Stasi- und Bonzengülle oder die sonst üblichen gesellschaftsrelevanten Bewältigungsarien. Das ist auserzählt. Und Biographien aus der Promi-Liga sind hierfür ungeeignet. Ich brauche die Geschichte eines unordentlichen Lebens und das unartige Gegenstück zu Langweilermemoiren. Ich sage es frei heraus, Grune, ich will dein Leben.“
Aus diesem Stoff wolle er eine Fabel schneidern, als Vorlage zu einer ungemein bahnbrechenden Fernsehsendung für mitteldeutsche Regionalprogramme. Ein Filmchen fürs heimische Erdnuss- und Chipslettenkino…?! Was bitte noch mal?! Alles erschien merkwürdig. Er sagte „Dein“ Leben. Ich sagte nichts. Ich dachte nur, wieso mein Leben? Das war gerade dingfest gemacht worden? Was sollte das hier werden? Ein abgeschmacktes Schelmenstück, der Narr am Boden liegend und zerschmettert. Tragisch-komisch, in der Tat! Oder eher spaßig amüsant bis drollig originell? Strelow sah mich an, schien meine Gedanken zu erraten und erklärte: Er hätte von den jüngsten Ereignissen schnell Wind bekommen, wäre daraufhin gleich hier hergefahren und wüsste bereits viel von mir. Als erstes wollte er mir einen erstklassigen Anwalt besorgen. Der arbeite für seine Verlage und hätte schon so manchen Kopf gerettet. Außerdem solle jener Anwalt ein Schriftstück aufsetzen, das alle meine Rechte sichern würde. Strelow wurde deutlich:
„Ich kann verstehen, dass Sie überrascht, wahrscheinlich irritiert sind, weil wir ausgerechnet hier und jetzt zusammentreffen. Aber möglicherweise ist das der richtige Moment, um jenes Vorhaben mit Ihnen zu besprechen. Sie können sich alles in Ruhe überlegen, haben jedes Mitspracherecht und riskieren nichts. Ich habe Ihnen ein Gerät mitgebracht, das ist phantastisch. Mit seiner Hilfe können Sie Ihren Gedankenwelten, Reflexionen, Einfällen und Imaginationen mühelos Gestalt verleihen. Sie sprechen, die Maschine schreibt und visualisiert synchron. Eine Audio-Taste gibt es natürlich auch, wenn Sie eine Wiedergabe wünschen. Und ich kann später das Resultat Ihrer Kopfarbeit problemlos ordnen, verdichten und in die geforderte Form verwandeln. Fangen Sie mit Ihrer Geschichte einfach von vorne an und reden Sie frei von der Leber weg. Ich bin mir sicher, Sie können das. Was meinen Sie, haben Sie Lust, sich darauf einzulassen? Gerade jetzt hilft Ihnen das vielleicht. Sie sind ein exaltierter Mensch, der den Auftritt liebt. Wichtig ist, gegen Ihren Willen wird nichts geschehen.“
Unverständlich, aber er schien mich tatsächlich gut zu kennen. Aus welchem Versandhaus nur hatte er seine Informationen bekommen?! Und wieso offerierte Strelow sein Vorhaben so siegessicher ohne Konjunktive. Wie unwirklich. Mein Ausnahmezustand hatte nun biblische Ausmaße erreicht. Es klang glaubhaft, als Strelow bei der Verabschiedung versicherte, er würde bald wiederkommen und alles mit mir und dem Advokaten en Detail besprechen. Nach seiner Rede, die nicht einmal fünf Minuten dauerte, war ich nicht im Stande, Vernünftiges zu denken, geschweige denn zu sagen. Ich nickte nur und bedeutete eine Gefühlsmischung aus Skepsis und Geneigtheit. Nun bin ich wieder allein. Nur dieses Sprechen-Schreiben-Wunder-Ding leistet mir Gesellschaft und liegt vor mir auf dem Tisch. Screenwriter nennt sich das schwarze Prachtstück, es ist das Neueste auf dem Markt und vorerst nur in Fernost zu haben. Es sieht aus wie meine alte Schiefertafel, auf der ich als Kleinkind kritzelte. Dagegen dieses Juwel scheint gläsern und glänzt wie stundenlang poliert. Was hatte Strelow noch einmal gesagt? Ich brauchte nur einzuschalten und zu sprechen, das Gerät zeichnet auf und zeigt das Gesprochene in Schrift auf dem Tableau. Wort für Wort, haargenau. Ich bin beileibe kein Anbeter von Medienfirlefanzen, doch hiervon würde ich bestimmt beeindruckt sein. Gar nicht schlecht. Wie das wohl gehen mag? Während ich versuche, die Maschine in Gang zu setzen, scheint es, als aktiviere ich auch damit mein Erinnerungsvermögen und überraschend wird der verschüttete Tim Strelow aus meiner untersten Gehirnetage ausgegraben. Ja, richtig, jetzt dämmert es. Jahre ist das her. Der war beim Fernsehen als Redakteur beschäftigt, genau wie ich, nur bei einem anderen Sender. Wiederum Jahre später begegnete er mir wieder. Da war er nackt und schien mich ständig zu beobachten.
Ich drücke den Stecker in die Dose und dann den winzigen Schalter an der schmalen Gehäusekante. Milchig leuchtet die schwarze Scheibe auf und am Rand blinkt die Aufforderung in greller Schrift: You can talk now. Meine Ellenbogen sind auf den Tisch gestützt. In meine Hände, zu einer Muschel geformt, presse ich Nase, Mund und Kinn. Ich atme tief und starre dabei an die Decke meiner Zelle, die die gleiche fahle Farbe wie der Bildschirm hat. Dann höre ich meine Stimme, die mir fremd und losgelöst erscheint, als gehöre sie nicht zu mir. Dennoch spreche ich weiter – leise, zögernd – und verlasse diesen jämmerlichen Raum:
Die Vorstellung, dass die Dinge so bleiben, wie sie sind, hat mir stets gefallen. Funktioniert hat das natürlich nie. Zumal ich mich, im Widersinn dazu, ständig für Neues interessierte. Oft genug war das ausgefallen und abseitig von der Normalität. Vieles von dem, vermutlich zu viel, habe ich ausprobiert. Einige von der Heilkünstler-Innung meinen, dass sich das Innenleben der Menschen alle sieben Jahre umkrempelt. Und bei manchen, so wie bei mir, krempelte sich das Außenleben gleich noch mit um. Mein Wechsel-Zyklus allerdings brauchte nur drei Jahre für die ganze Umkrempelei. Und so hatte mich das Leben hin und her geschleudert. Alles ist nur halb geglückt, wenn überhaupt. Nichts habe ich zu einem guten Ende führen können. Ich bin ein Fünfzig-Prozent-Vielkönner. Diese Erkenntnis gibt keinen Anlass zu überbordendem Freudentaumel. Und nun soll ich die ganze Wahrheit offenbaren.
Mama hatte oft gesagt, ich solle doch alles aufschreiben, weil es so außergewöhnlich sei, was ich erlebte. Sicher würde mir meine Mum diese Empfehlung nicht gegeben haben, wüsste sie von all meinen bizarren Eskapaden und den rabenschwarzen Abgründen. Nun ist der Tag gekommen, an dem ich zwar nichts aufschreibe, aber reden werde. Ein Monolog. Geht das überhaupt? Aber vielleicht wird das mein Rettungsanker? Vielleicht. Von wegen, vielleicht. Bescheuert bin ich, das zu glauben. Was kann mich noch retten? Nichts. Und nichts kann mich mehr gefährden, auch wenn ich mich nun ausziehen werde bis auf die Haut. Am Ende werde ich dastehen wie der vitruvianische Mensch, nackt und von aller Welt vermessen. Was macht das noch? Also wage ich mich auch noch an dieses Abenteuer, begleitet von einer fernöstlichen Computer-Rarität. Eines allerdings ist sicher, nie könnte ich bücherfüllende Geschichten erfinden, auch nicht im Reclam-Format. Darum ist, was nun folgt, wirkliches Leben – zumindest aus meiner Erinnerung.
Das erste Entsinnen
Herr Ulbricht versprach, keine Mauer zu bauen
Mit kurzer Lederhose, langen Blondlocken und dem Terrier-Mischling Purzel, der festgebunden am wackeligen Holzroller hängt, so stehe ich mit sechs Jahren auf dem kleinen Platz vor unserer Hoftür, mitten in einer Wolke aus duftendem Wiesenheu. Das hatte mein Großvater zum Trocknen hier ausgebreitet. Damals war ich ein zierliches, niedliches Kerlchen, was sich später ändern sollte. Diese Erinnerung habe ich wahrscheinlich nur deshalb, weil es davon ein winziges Schwarzweißfoto mit Zackenrand gibt. Meine Kindheit hätte eine Mischung aus schnulziger Heidi mit ihrem Geißen-Peter und den Heiden von Kummerow werden können, wäre da nicht mein tyrannischer Vater gewesen. Mama arbeitete zu Hause. Das fand ich großartig. Wenn die anderen Kinder zur Nachmittagsschicht im Kindergarten ausharren mussten, weil beide Eltern in sozialistischen Großbetrieben Geld verdienen mussten, trabte ich froh heimwärts, in unser jahrhundertealtes Lehmgemäuer. Daheim angekommen, wurde ich liebevoll und mit einem zünftigen Mittagbrot empfangen. Das war häufig zu zünftig, denn aus dem niedlichen Blondschopf wurde bald ein dicker Landjunge. Bis zum heutigen Tag habe ich mir gewünscht, schlank zu sein. Das ist mir nie gelungen. Aber schon damals, als kleiner Mensch, genoss ich die Freiheit und Natürlichkeit des Landlebens. Lag ich zu Tagesende in meinem Bett, konnte ich aus meinem Schlafbüdchen den alten Kirchturm sehen, auf dem an warmen Sommertagen ein Amselhahn sein melancholisches Abendlied für mich pfiff. Ich fühlte mich geborgen und wusste, dass ich behütet schlafen würde.
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