Und dann gab es Arthur. Der war wie die meisten in unserem Dorf semi-professioneller Ackerbauer und Viehzüchter in einer Person. Gelegentlich kutschierte er gemütlich mit seinem Pferdegespann an unserem Abenteuerspielplatz, dem Ascheberg, auf holprigen Feldwegen vorbei. Eines Tages war sein Wagen mit einem übergroßen Güllefass beladen, dessen wertvoller Inhalt dicke Rüben wachsen lassen sollte. Von weitem sahen Alex und ich ihn angeschunkelt kommen. Arthur schlief auf seinem Kutschbock. Von seiner Zigarre war nichts mehr übrig, nur schwarzer Tabaksabber lief ihm aus dem schräg dösenden Mund. Die zuverlässigen Pferde indessen kannten den Weg und ihren Auftrag. Wie Max und Moritz befanden wir, hier müsste man doch etwas tun. Und wäre es nicht ein gelungener Streich, heimlich und durchtrieben die Jaucheschleuse frischweg zu öffnen. Der würzig duftende Flüssigdünger würde so ebenmäßig auf dem Weg verteilt. Unsinnig, aber dafür voll zum Ablächeln, wenn wir dann den ollen Zigarren-Arthur am Reiseziel aus sicherer Deckung mit Vergnügen beobachten würden, wie er verblüfft dumm drein schaut, weil er – ganz unfassbar – eine leere Tonne auf seinen Acker kutschiert hat. Gesagt, getan. Die übermütigen Wegelagerer schlichen sich vorsichtig von hinten an und Alex war bereit, den massigen Schieber an seinem Eisenstab ein Stück nach oben zu bewegen. Arthur hatte wahrscheinlich lange keine Jauche mehr über Land befördert, denn der Verschluss war eingerostet und klemmte wie festgenagelt. Leise feuerte ich Alex an. Der drückte erneut mit voller Kraft. Und dann noch einmal. Nun gab es einen Ruck mit Explosion. Und siehe da, ein enormer Schwall ergoss sich nicht nur auf den Weg, sondern hauptsächlich über den Verursacher dieses Geniestreichs. Vor Schreck riss der den Hebel wieder runter, es runkste und der Wasserfall aus Jauche versiegte abrupt. Weil die Kufe wieder so flink verschlossen war, erlitt Arthur nicht, wie geplant, größere Transportverluste. Jedoch für Alexander war der warme Gülleschwall mehr als ausreichend ausgefallen. Von oben bis unten besudelt, hatte er sich mit einem Schlag in einen infernalisch stinkenden Jauchezombie verwandelt. Die dicke Brühe lief vom Kopf über den ganzen Körper bis in seine Schuhe. Er schniefte zweimal kräftig durch und strich sich der Ordnung halber mit dem Ärmel über das gülletriefende Gesicht. Dabei verschmierte Alex ein bisschen Schweinekacke. Unser Entsetzen war groß, die Furcht vor Alexanders zur Gewalt neigenden Mutter allerdings war größer. Gottlob, wir hatten den rettenden Einfall. An der nahegelegenen Quelle, die im Sommer wie im Winter munter sprudelte, entkleidete sich Alex gänzlich und wir begannen zu waschen wie Zolas Germinal an der Seine. Allein, wir hatten nicht bedacht, dass beim Waschen die Kleidung patschnass wurde. Aber auch dafür hatten wir die Lösung sofort parat. Ich hatte als anständiger Feuerwerker verlässlich eine Schachtel Riesaer Sicherheitszündhölzer dabei. Damit entfachten wir ein Lagerfeuer und schleppten haufenweise Brennholz herbei. Der mittlerweile frisch Angekleidete musste nun pausenlos mit seinen triefenden Klamotten durchs flammende Inferno springen, weil man so am besten Wäsche trocknet. Der Albdruck vor dem heiligen Zorn seiner Mutter ließ den nassen Knaben wie einen türkischen Derwisch durch die Flammen hetzen. Hin und her sprang mein Kumpan, bis er vor Erschöpfung dampfend niedersank. Und siehe da, der Trocknungsprozess war gar nicht schlecht vorangegangen. Es wäre ein Teilerfolg gewesen, wenn bloß die Klamotten ein wenig weniger gestunken und mein Freund bei seinem feurigen Höllenritt nicht sämtliche Gesichts- und Kopfhaare verloren hätte. Alexander sah aus wie das Ding aus dem Sumpf. Wir waren bei ihm zu Hause gerade hineingeschlichen, da hatte die energische Mama nicht nur den Braten, sondern auch die unaussprechliche Aura ihres angesengten Goldjungen gerochen. Ihr Aufschrei liegt noch heute in der Luft. Ich bekam für Wochen Zutrittsverbot zum lauschigen Idyll.
Mein so kluger Alexander war ein ausgemachter Pechvogel. Beim Blödsinnmachen wurde allemal nur er erwischt und war der Prügelknabe. Das war so ungerecht, denn Alex war der Vorsichtigste von uns allen und öfter mit Bedenken unterwegs. Von unserer Clique der unterstimulierten Hirne war er auf alle Fälle das kleinste Idiotenlicht. Einmal standen wir nach der Schule im voll besetzten Linienbus, so eng gedrängt wie Salzheringe in der Büchse. Miefstickige Luft. Unsere sauerstoffunterversorgten Hirne arbeiteten träge und noch dämlicher als sonst. Aus Langeweile ließ jeder aus unserer Halbwüchsigenmeute mehrmals eine dicke Kaugummiblase lautstark millimeternah an alten Hälsen platzen. Paff! Endlich, ein bisschen Gaudi. Wir grinsten amüsiert und dämlich. Die alten Tanten schauten empört nach hinten, aber es war ja nichts zu sehen. Alexanders klebrige Kaumasse konnte nicht effektvoll detonieren, sondern klebte schlagartig an seinem Gesicht und der Pranke einer stattlichen Matrone. Denn die hatte unerwartet blitzschnell gewendet und dem glücklosen Blasenmacher so kräftig eine in die Visage gedonnert, dass der arme Alex vor Schreck und Sauerstoffmangel zu Boden sank. Dahingewelkt wie ein Moosröschen in frostkalter Herbstnacht.
Bei der folgenden Kulturschande erwischte es Alexander wieder arg. Auf unserem Boden ruhte ein Schatz: die Schallplattensammlung von Mama. In ihrer Jugend hatte sie einen wahren Fundus alter und neuer Schelllackplatten zusammengetragen, da sie ihre kratzigen Klänge und die Sangeskünstler über alle Maßen liebte. Nun interessierte sie sich nicht mehr dafür. Das antike Grammophon hatte längst ausgedient, war entzwei und unbrauchbar, wir Kinder missbrauchten den goldenen Trichter als Trompete zum Erschrecken. Die Platten lagerten seit gut zwei Jahrzehnten auf dem Boden in einer Ecke, verstaubt, gestapelt und seelenruhig. Bis zu jenem Tag, als Alex und ich den Entschluss fassten, damit etwas Unterhaltsames anzustellen. Warum sollte man nicht probieren, die ollen Grammofonplatten vom nahen Hügel über das Dorf segeln zu lassen. Gesagt, getan. Wir verstauten einen gehörigen Stapel in Opas verschlissenem Armeetornister und zogen los. Unterwegs trafen wir zwei Schulkameraden, die schlossen sich uns begeistert an. Auf nach Larremy! Nun rotierten Rudi Schuricke, Rosita Serrano und Co. nicht auf dem Plattenteller, sondern in luftigen Höhen und wurden zum lebensbedrohenden Schelllack-Ufo-Kampfgeschwader. Unglaublich schnell und unglaublich weit flogen die schweren, knochenharten Wurfgeschosse! Alex traute sich nicht zu werfen, war unschlüssig, meldete Bedenken an und druckste rum. Ich ermunterte ihn und verwies auf den imposanten Flugverlauf. Er fasste sich ein Herz, griff nach einer gerillten Antiquität und schickte sie auf ihre desaströse Reise. Weil Alex sich so dermaßen mit Wind und Richtung verkalkulierte, driftete die schwarze Scheibe ab und erwischte im tiefen Segelflug die alte Minna in ihrem Hof am Kopf. Wir sahen von weitem, wie sie zusammensackte und leblos liegen blieb. Alle standen wie versteinert und uns war klar, nun würden wir hingerichtet. Vier Mal die Todesstrafe für ruchlose Rotzlöffel. Wir stellten uns. Mein Freund wurde als verantwortlicher Kommandeur jener Torheit drakonisch bestraft. Aber auch ich bekam gewaltig mein Fett weg. Die bedauernswerte Alte lag zehn Tage im Krankenhaus und war davon zwei ohne Bewusstsein. Gott sei Dank trug die alte Frau sommers wie winters ein dickes, braunes Wollkopftuch. Wer weiß, was ohne ihren Helm geschehen wäre. Alex war auch hierbei der Unschuldigste von uns Idioten, der nur einmal zur Wurfscheibe griff, die einst kläglich schallernd auf dem Plattenteller tönte. Der Arme. Beim Strafeabbrummen konnte ich ihm nicht helfen, aber wir haben zusammen die alte Minna im Krankenhaus besucht, ihr einen Sommer lang den Gemüsegarten in Schuss gehalten und uns sehr geschämt.
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