In Dr. Beckers Händen fokussierte sich Osteopathie auf ‚Leben in Bewegung‘ und Stille. Ihm war klar, dass alles Lebendige sich bewegt – dass sich Leben selbst als Bewegung manifestiert. Das Vorhandensein vollständig freier Bewegung in einem Wesen – und zwar auf allen Ebenen – war für ihn eine Umschreibung des Zustands, den man Gesundheit nennt. Um Patienten zu helfen, ihre Gesundheit wiederherzustellen, muss man daher alles, was eine freie Bewegung behindert, lösen.
Er verstand also, dass sich Leben als Bewegung zeigt – und ebenso war ihm klar, dass die Kraft des Lebens in der Stille wohnt. Er sah, dass es eine grundlegende Kraft bzw. Potency gibt, die in allem, was lebt, existiert, solange es lebt. Alles Leben entspringt dieser Kraft, deren Wesen Stille ist – eine dynamische Stille voller Potenzial; eine Stille, die zu palpieren man genauso gut lernen kann, wie man Bewegung palpiert. Diese Eigenschaften des Lebens, Bewegung, Potency und Stille sind alles Ressourcen, die uns beim Wiederherstellen der Gesundheit zur Verfügung stehen.
Über diese Sichtweise vom Wesen der Gesundheit kommt man zu einem anderen Schlüsselkonzept in Dr. Beckers Lehre und Werk: die Rolle des Behandlers, wie er sie verstand. Der Behandler hat nicht mehr die Funktion, zu entscheiden, was das Problem des Patienten ist, und dann etwas zu tun, um es zu korrigieren. Dr. Becker betonte immer seine Ansicht, dass die gleiche Stille und das gleiche Leben in Bewegung sowohl im Behandler als auch im Patienten existieren. Im Patienten drückt sich dies als seine Fähigkeiten zur Selbstheilung aus, die ständig am Arbeiten sind. Der Behandler wiederum kann mit Hilfe seiner bewussten Wahrnehmung und seines direkten, über die Hände hergestellten Kontakts diese Gesundheitsmechanismen anregen, im Patienten effektiver zu arbeiten.
Dr. Becker lebte die Osteopathie, die er lehrte – er war einfach und tiefgründig. Sein Verständnis von Gesundheit und Heilen war ebenso tief gehend wie seine Fähigkeit, dieses Wissen zum Wohle seiner Patienten und Schüler anzuwenden. Diese ausgeprägte Tiefe des Verstehens zeigte sich jedoch immer auf die einfachste und direkteste Art und Weise. So gut er konnte, gab er jedem das, was er brauchte, und versuchte dabei, aus jeder Begegnung etwas Neues über das Leben zu lernen.
OSTEOPATHIE UND DAS KRANIALE KONZEPT
Die Wissenschaft der Osteopathie wurde 1874 von Dr. Andrew Taylor Still entdeckt, einem Arzt, der voller Eifer nach einem effektiveren Heilungssystem suchte. Sein intensives Studium brachte ihm Einsichten, die ihn dazu führten, eine Reihe von Grundprinzipien zu formulieren. Er lehrte, dass die Struktur des Körpers und seine Funktion untrennbar miteinander verbunden sind und dass jeder Mensch alle für seine Gesundheit notwendigen Ressourcen in sich hat. Ebenso war er der Ansicht, dass der Körper eine Funktionseinheit ist – dass Körper, Geist und Seele als ein zusammengehöriges Ganzes funktionieren, das ständig daran arbeitet, sich selbst zu heilen. Nach Dr. Stills Meinung gehört zu allen Erkrankungen und Beschwerden des Körpers eine Einschränkung im freien Fluss der stofflichen und energetischen Elemente im Körper, was dann den inneren Selbstkorrekturprozess behindert.
Basierend auf der Kenntnis dieser Prinzipien entwickelte Dr. Still einen Behandlungsansatz, der das Wissen des Behandlers, sein Verständnis und seine Hände als die Hauptwerkzeuge für Diagnose und Behandlung nutzt. Obgleich an dem von ihm gegründeten College das gesamte medizinische und chirurgische Wissen unterrichtet wurde, betonte Dr. Still immer, wie wichtig die genaue Kenntnis von Anatomie und Physiologie und die Anwendung palpatorischer Fähigkeiten seien. Im Laufe der Zeit wurden diverse osteopathische Methoden der Manipulation entwickelt, die diese Prinzipien in der Behandlung von Patienten umsetzen.
1892 gründete Dr. Still die American School of Osteopathy (ASO) in Kirksville, Missouri. In der Klasse des Jahrgangs 1900 war ein Schüler namens William Garner Sutherland. Als Student am College hatte Dr. Sutherland eine plötzliche Einsicht in die inhärenten Mechanismen des menschlichen Körpers. Er hatte den überraschenden Gedanken, dass die Knochen des lebendigen Schädels sich das ganze Leben lang bewegen, was auf die Anwesenheit einer Art Atmung hindeutet. Dr. Sutherland studierte, beobachtete und experimentierte an sich selbst unermüdlich 40 Jahre lang, bis er die Details dieses Atemmechanismus erforscht hatte. Dann verbrachte er die letzten 15 Jahre seines Lebens damit, andere dieses Kraniale Konzept in seiner praktischen Anwendung bei der Betreuung von Patienten zu lehren. Dies wurde als Kraniale Osteopathie bzw. Osteopathie im kranialen Bereich bekannt. Immer, wenn er unterrichtete, betonte Dr. Sutherland, dass das Kraniale Konzept lediglich eine Erweiterung und keine Abspaltung von Dr. Stills Wissenschaft der Osteopathie sei. Dr. Sutherlands Entdeckung ging weit über die Beschreibung eines mechanischen Systems hinaus; er begann zu verstehen, dass die Bewegung, die er beobachtete, die grundlegende Lebenskraft bei der Arbeit ist. Sie ist eine Manifestation des Lebens in Bewegung – ein äußeres Anzeichen der grundsätzlichen, selbstregulierenden, selbstheilenden Körpermechanismen.
Aufgrund der fundamentalen Natur dieses Mechanismus und seiner rhythmischen Qualität nannte ihn Dr. Sutherland den P rimären Atemmechanismus (auch Kraniosakraler Mechanismus genannt). Er beschrieb folgende fünf Komponenten dieses Mechanismus, die zusammen als eine Einheit funktionieren:
1. die Fluktuation des Liquor cerebrospinalis, mit der Potency der Tide.
2. die inhärente Motilität des Zentralen Nervensystems.
3. die Mobilität der kranialen und spinalen Dura (reziproke Spannungsmembran).
4. die gelenkige Mobilität der kranialen Knochen.
5. die unwillkürliche Bewegung des Sakrum zwischen den Ilia.
Nachdem Dr. Sutherland die Anatomie und Physiologie dieses subtilen und gleichzeitig mächtigen Mechanismus verstanden hatte, konnte er Behandlungsprinzipien entwerfen, um mit diesem Mechanismus zu arbeiten. Er entwickelte einen manuellen Behandlungsansatz, der so subtil und mächtig ist, wie der Mechanismus, mit dem man arbeitet. Der folgende Ausspruch von Dr. Sutherland fasst diesen Behandlungsansatz zusammen:
„Der innewohnenden physiologischen Funktion zu erlauben, ihre unfehlbare Potency zu entfalten, statt von außen blinde Kraft anzuwenden ….“ 2
Das von Dr. Sutherland gelehrte Verständnis war ebenso wie sein Behandlungsansatz nie auf den Kranialen Mechanismus beschränkt.
Dieser Primäre Atemmechanismus ist in der gesamten Körperphysiologie vorhanden. Er eignet sich in einzigartiger Weise zum Behandeln von Problemen im kranialen Bereich, kann jedoch eine jede durch Krankheit oder Traumen entstandene Körpersituation möglicherweise beeinflussen.
Dr. Sutherland entwickelte einen Lehrkursus, um Ärzten das notwendige Verständnis und die palpatorischen Fähigkeiten beizubringen, um Patienten auf diese Weise zu behandeln. Seine loyalen Schüler, unter ihnen Dr. Becker, führten diese Kurse fort. Auf diese Weise wird Dr. Sutherlands Arbeit weitergegeben.
Rachel E. Brooks, MD
Rollin Becker (1910–1996) wuchs in einem osteopathischen Haushalt auf. Sein Vater Arthur D. Becker, DO, ein prominenter und angesehener Osteopath, der noch unter Dr. Andrew Taylor Still als Lehrer tätig war; fungierte später an zwei osteopathischen Colleges als Dekan. 1934 graduierte Rollin an der American School of Osteopathy , dem späteren Kirksville College of Osteopathic Medicine . Nach ein paar Jahren in Oklahoma zog er nach Michigan, wo er dreizehn Jahre lang praktizierte.
1944 traf er dort William Garner Sutherland, DO, 1948 unterrichtete er zum ersten Mal als Teil der Lehrfakultät in einem von Dr. Sutherlands Kursen. 1949 ließ sich Dr. Becker in Texas nieder, wo er bis 1989 praktizierte. Während dieser ganzen Zeit blieb er Dr. Sutherland und dessen Werk verpflichtet. Von 1962–1979 war Dr. Becker Präsident der Sutherland Cranial Teaching Foundation 3, einer Organisation, die der Fortbildung im Sinne von W. G. Sutherland dient.
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