»Vater hinterlässt uns nicht viel«, nahm Wilfried das Wort. »Wir werden die Zucht verkaufen müssen, um die dringendsten Schulden bezahlen zu können, und wir werden einen der Knechte entlassen. Es wird lange dauern, bis ich das Erbe schuldenfrei habe. Ich weiß von Vaters Testament. Er überträgt mir als Ältestem die Wirtschaft und alles, was dazugehört. Dir vermacht er fünftausend Reichsmark, aber wegen der Hypotheken werde ich sie dir nicht gleich auszahlen können. Mit dem Gymnasium ist Schluss, das können wir uns nicht mehr leisten. Wir brauchen jede Hand auf dem Hof.«
»Mit mir kannst du nicht rechnen«, sagte Sebastian trotzig.
»Was willst du dann tun? Hier müßig herumhocken?«
»Ich werde nach Berlin gehen.«
»Um dort was zu tun?«
»Das weiß ich nicht, aber irgendetwas werde ich schon finden.«
»Bub, was willst du in der großen Stadt? Du wirst verhungern oder unter die Räder kommen!«, klagte die Mutter. Für ihren Jüngsten hatte sie stets mehr Zärtlichkeit empfunden als für Wilfried, und sie machte sich Sorgen wegen seiner Zukunft. »Was soll nur werden?«, fragte sie ratlos.
»Du wirst uns nicht auf der Tasche liegen!«, sagte Wilfried entschlossen. »Der Anwalt Stöckler in Neuruppin hat eine Lehrstelle zum Anwaltsgehilfen ausgeschrieben.«
»An so etwas habe ich eigentlich nicht gedacht«, wehrte sich Sebastian.
»An was dann? Mit deinem ollen Balzac kannste hier nicht rumsitzen! Es ist abgemacht: Du gehst zum Stöckler und stellst dich vor. Er ist Parteimitglied und wird dich deswegen anderen Bewerbern vorziehen. Ich fahre morgen bei ihm vorbei und klär das schon mal vorab.«
»Ich kann mir das nicht besonders spannend vorstellen.«
»Spannend? Darauf kommt es nicht an. Andernfalls hilfst du mir hier auf dem Hof. Such es dir aus! Du wirst die ersten Jahre ohnehin nicht viel mehr als das übliche Lehrgeld bekommen, und wir werden dich durchfüttern müssen. Aber du bist mein Bruder, und da will ich nicht kleinlich sein. Also, überleg es dir!«
Ich habe keine andere Wahl, dachte Sebastian unglücklich. Von wegen »Jeder trägt den Marschallstab im Tornister« und was sie einem sonst so auf der Schule erzählten!
Zwei Jahre musste Sebastian in der Anwaltskanzlei Stöckler ausharren, ehe das Schicksal eingriff und ihn aus ihr befreite. Doch er hatte bald gelernt, systematisch zu arbeiten und – was vielleicht noch wichtiger war – dass ein Gesetz eine neue Wahrheit bekam, wenn man es mit Selbstbewusstsein und Leidenschaft vortrug. Er konnte dem alten Stöckler so einiges an Schauspielkunst abschauen. Gleichwohl verachtete er diesen und manchmal auch das Büro, das ihn wie eine Geierhöhle dünkte. Es war dunkel und vollgestopft mit Akten, so dass man sich kaum rühren konnte. Die Möbel hatten schon zu Kaiserzeiten antiquarischen Wert, und auf allen Papieren lag Staub.
Bürovorsteher war der Anwaltsgehilfe Brösel, ein langer Hagestolz und leidenschaftlicher Nationalsozialist mit stets schlecht rasiertem Gesicht und gelber, ausgetrockneter Haut. Sebastian wurde schon übel, wenn dieser in seine Nähe kam, denn neben einem säuerlichen Altherrengeruch hatte Brösel einen Atem, der der Pestilenz gleichkam. Natürlich verabscheute er Sebastian, zum einen, weil er jung war, und zum anderen, weil er ihm, wie er mit Recht meinte, nicht den nötigen Respekt entgegenbrachte. Wenn Sebastian später von der Arbeit im Anwalts- und Notarbüro Stöckler träumte, dann wachte er schweißnass auf, so wenig geeignet hielt er sich für den Beruf. Und was er zu tun bekam, hätte auch jeder Analphabet, wie er zu Hause murrte, erledigen können.
Er trug also die Akten ins Gericht, protokollierte auf einen Wink von Stöckler die Aussagen von Klägern und Zeugen und vertiefte sich in die Gesetze, die in einem so gestelzten Deutsch formuliert waren, dass man sie wieder und wieder lesen musste und dennoch nicht verstand. Mit dem großen Stöckler hatte er wenig zu tun, und er, Sebastian, war für diesen auch zu unbedeutend, um mehr als einen Knurrlaut und einen barschen Zuruf, dies oder jenes zu tun, von ihm zu hören. Stöckler war stramm rechts, und sein Adlatus stand ihm in nichts nach. Zur Mittagszeit saßen die beiden, umringt von den zwei weiblichen Bürokräften, mit einer Tasse Kaffee in der Hand in dem Kabuff neben Stöcklers Büro, und der Anwalt hielt großartige Reden über den Zustand Deutschlands und Europas und erklärte die Weltpolitik.
So vergingen zwei Jahre, in denen ihm der Bruder oft genug zu verstehen gab, dass er ihn für einen unnützen Esser halte, und natürlich hatte ihm Stöckler gesteckt, dass Sebastian nur eine sehr mäßige Hilfe im Anwaltsbüro war.
»Wir werden den Jungen zeitlebens auf der Tasche liegen haben«, klagte Wilfried gegenüber der Mutter, worauf diese nur immer hilflos die Hände über dem Kopf zusammenschlug.
In der Garnisonsstadt Neuruppin war man sehr kaiserlich, genauer preußisch-königlich eingestellt, hatte man doch dem preußischen König zu verdanken, dass die Stadt nach dem großen Brand wiederaufgebaut worden war. Es waren nicht viele, die mit der SA marschierten, als der Gauleiter von Berlin, ein koboldhafter Mensch mit einem Hinkefuß, seine Kohorten nach Neuruppin rief, um mit ihnen durch die Stadt zu marschieren und »Deutschland, erwache!« zu brüllen, allein zu dem Zweck, hier bei den kasernierten Soldaten für die Idee der nationalen Erweckung zu werben. Das Personal der Kanzlei stand am offenen Fenster und jubelte unter Stöcklers Anweisung den braunen Kohorten zu.
Als die gerade am Denkmal König Wilhelms vorbeimarschierten, fiel ein Schuss. In Berlin war dies nichts Besonderes, hier in der Behaglichkeit der kleinen Provinzstadt hingegen eine unerhörte Begebenheit. In Neuruppin hatten die Kommunisten keine große Anhängerschaft, aber einige gab es doch, und aus deren Reihen kam der Schuss, der zwar nichts anrichtete, jedoch die SA auseinanderspritzen ließ. Sofort wurde unter den Zuschauern am Straßenrand der Schuldige gesucht. Sebastian sah, wie sie einen jungen Mann mit Ballonmütze verfolgten, sah diesen auf ihr Haus zulaufen, die grölenden SA-Leute im Gefolge. Sein Brötchengeber grölte blutgeil mit und feuerte die SA an. Sebastian aber schlich sich aus dem Zimmer und lief hinunter in den Flur, wo ihm auch schon mit gehetzten Augen der junge Mann mit der Ballonmütze entgegenkam. Erschrocken sah der ihn an.
»Keine Angst, komm!«, flüsterte Sebastian. Während unten die SA schon polterte, lief er dem Kommunisten voran und führte ihn in die Kanzlei. Der Flur war leer. Noch standen alle in Stöcklers Büro und sahen auf die Straße, wo eine wilde Hatz auf die vermeintlichen Kommunisten in Gang war. Sebastian stieß den Rotfront-Mann in den Aktenraum, der außer Regalen nur noch eine Leiter enthielt und den Staub von einigen Generationen. Er hoffte, dass man hier nicht so schnell auf Aktensuche ging. »Warte hier! Und keinen Mucks, bis sie wieder …« Er legte den Finger auf den Mund, und der junge Mann nickte dankbar. Sebastian ging in Stöcklers Büro zurück. Man schien seine Abwesenheit nicht bemerkt zu haben.
Nun polterte es an der Tür zur Kanzlei. Stöckler sah sich stirnrunzelnd um und ging zum Flur. Drei SA-Männer drängten herein.
»Womit kann ich Ihnen helfen?«, fragte Stöckler mit strenger Miene.
»Hier ist der rote Bastard rein!«, stammelte der Anführer, und sein Blick flog über die Anwesenden.
»In unserer Kanzlei befindet sich kein Roter. Niemals!«, erwiderte Stöckler mit hochrotem Kopf.
»Aber wo soll er denn sonst …«
»Was weiß ich! Bei uns ist er jedenfalls nicht. Haben Sie nicht gesehen, dass vor unserem Fenster die Hakenkreuzfahne hängt?«
»Entschuldigung, dann ist er wohl auf dem Dachboden«, sagte der SA-Mann, nickte seinen Schlägerkumpanen zu, und sie stolperten hinaus.
Читать дальше