Er hasste die Roten, aber mehr noch hasste er die Juden, und er machte sie verantwortlich für den Ärger mit den Banken, den er dann und wann hatte. Er war verschuldet, nicht deswegen, weil sein Land nicht viel einbrachte, sondern weil er einer Leidenschaft frönte, die jedem anderen im Dorf Befremden und Kopfschütteln eingebracht hätte. Er liebte Pferde und hatte eine Zeitlang großes Glück mit seiner Zucht, die sogar in Fachkreisen einen nicht unerheblichen Ruf genoss, bis dann seine Tiere eine seltsame Krankheit befiel, so dass er alle töten lassen musste. Der Aufbau einer neuen Zucht verschlang viel Geld – noch mehr Geld aber verschlang seine Wettleidenschaft, die sich in Hoppegarten austobte. Es war anfangs ein Spiel gewesen, das dem Gedanken entsprang, auf diese Weise den Aufbau der Zucht beschleunigen zu können, und wurde schließlich zum verbissenen Laster, das ihm die Tage vergällte. So weinte seine Frau jedes Mal, wenn er in seinem Sonntagsanzug nach Hoppegarten fuhr, denn sie wusste, mit welchem Gesicht, mit welcher Wut er zurückkommen würde und dass sie es dann auszubaden hatte, seine Tiraden anhören musste, die den Juden galten und sich bald auf die Nächsten richtete, den artfremden Sohn, diesen Stubenhocker und Bücherwurm, und das Weib, das ihm nichts recht machen konnte.
Helge, der Sohn des Schulzen von Lindow, kam nun schlitternd über das Eis. Sie waren in derselben Klasse, und doch trennte sie vieles. Helge war Klassenprimus, und er, Sebastian Lorenz, saß in der letzten Reihe und galt als hoffnungsloser Fall. Man war sich im Lehrerkollegium einig, dass er durchs Abitur fallen würde.
»Schnall die Schlittschuhe ab, du sollst sofort nach Hause kommen!«, rief Helge.
»Warum?«, fragte Sebastian, verärgert darüber, so aus seinen Tagträumen gerissen zu werden.
»Einer eurer Knechte kam eben. Er wartet am Ufer auf dich.«
»Was ist denn passiert?« Sebastian sah zum Ufer hinüber, an dem so viele standen und dem Treiben auf dem See zusahen. Einen ihrer Knechte vermochte er nicht zu erkennen. Sie hatten zwei, Wilhelm und Hans, und beide hätten Brüder sein können, so ähnlich sahen sie sich. Beide waren untersetzt, stark und so gute Arbeiter wie Esser. Während Hans dem Wilfried anhing, hatte sich zwischen Wilhelm und Sebastian eine geheime Komplizenschaft gebildet. Wilhelm mochte es, wenn ihm Sebastian von Austerlitz erzählte, von dem Sieg Napoleons bei den Pyramiden oder ihm Heines Weber vorlas. Hans dagegen hielt das wie sein Idol Wilfried für Spökenkiekerei und schalt Wilhelm, dass dieser sich mit so einem Spinner abgab.
Seufzend schnallte Sebastian die Schlittschuhe ab und gab sie Helge zurück. »Danke, es sind gute Schlittschuhe. Weißt du, was los ist?«
»Das soll dir euer Knecht mal selber sagen!«, erwiderte Helge und schnallte sich nun selbst die Schlittschuhe an.
Sebastian zuckte wegen der ausweichenden Antwort mit den Achseln. Was hatte der Streber nur?, dachte er, während er über das Eis zum Ufer zurückschlidderte. Es war immer noch hoher Nachmittag. Die Glocken hatten aufgehört zu läuten.
»Was ist denn los, Wilhelm?«, rief er diesem zu, als er ihn am Ufer entdeckte und einige Enten zur Seite gescheucht hatte.
Wilhelm machte ein ernstes Gesicht, nahm ihn beim Arm und führte ihn am verfallenen Kloster vorbei zu dem Gasthof an der Hauptstraße, wo sein Gespann stand.
»Nun sag schon, was ist denn los?«
»Der Bauer ist …« Der Knecht brach ab und bestieg den Kutschbock des Landauers. Sebastian folgte ihm, und Wilhelm löste die Zügel und nahm die Peitsche. Er schnalzte mit der Zunge. »Hü, ihr Faulpelze!« Dabei ließ er die Peitsche über die Pferderücken knallen, ohne dass die Schnur die Tiere berührte.
»Mach es doch nicht so spannend!«
»Der Bauer ist … tot.«
»Was?«
»Er hatte sich nach dem Mittagessen hingelegt, und als die Bäuerin ihn wecken wollte, fand sie ihn tot neben dem Sofa liegen. Er ist friedlich eingeschlafen. Er hatte wohl einen Herzschlag.«
»Das kann doch nicht sein …«, stammelte Sebastian.
Alfred Lorenz war in den Fünfzigern gewesen, und nie hatte man ihn krank erlebt. Selbst wenn er zu viel getrunken hatte, war er aufgestanden und aufs Feld gegangen und hatte so unerschütterlich gewirkt wie ein Gebirge. Und nun war dieser Fels so sang- und klanglos aus seinem Leben verschwunden?
Sebastian empfand keine Trauer, nicht einmal Bedauern oder gar Mitleid. Sein Vater und er waren sich immer fremd geblieben, und er konnte sich nicht erinnern, dass der Vater ihn als Kind in den Arm genommen oder gar geherzt hatte. In letzter Zeit hatten ihre Auseinandersetzungen an Intensität zugenommen, weil er, Sebastian, nicht in den Staatsdienst eintreten wollte, was Alfred Lorenz für die einzige ehrbare Alternative hielt, wenn man kein Bauer sein wollte. Doch Sebastian verspürte keine Lust dazu, verstaubte Akten zu wälzen, Ärmelschoner zu tragen und vor Menschen zu katzbuckeln, die Arcole nicht kannten und Balzac für eine französische Cognacmarke hielten. Oft hatten sie darüber gestritten, dass er nicht wie sein Bruder Wilfried in die SA eintreten wollte und es schon abgelehnt hatte, der Hitlerjugend beizutreten, wo Wilfried bereits als Scharführer zu einiger Anerkennung gekommen war. Sebastian mochte diesen Hitler nicht, sein Geschrei nicht, seinen Hass nicht und auch nicht seine pöbelnden Garden. Er mochte nicht die kackbraunen Hemden, die Dummheit und Grobheit der SA, ihr trunkenes Gegröle und ihre Vulgarität. Er hasste ihr Nibelungengeschrei und das Gefasel von der Auserwähltheit der Arier. Sicher hatte auch das wilde Gerede seines Vaters daran Anteil, dass er sie verabscheute. Für Deutschtümelei hatte er zu viel gelesen. Die einzigen Fächer, in denen er gute Zensuren hatte, waren Deutsch und Geschichte, er hatte Seneca und Cicero gelesen und hatte sogar über Heraklit, Platon und Aristoteles einige Kenntnisse. Vor allem aber liebte er die Franzosen und träumte davon, in Paris zu leben, über die Rue Saint-Honoré zu schlendern und mit Danton und Camille Desmoulins im Le Grand Véfour zu speisen. Er gab dem Vater recht, dass er aus der Art geschlagen war und niemand in Schönberg die gleichen Leidenschaften wie er hatte. Er war nicht wie sein Vater oder sein Bruder und wollte es auch nicht sein. Und nun war der Alp seiner Kindheit tot. Doch was würde nun werden? Aus Andeutungen des Vaters wusste er, dass sie hoch verschuldet waren. Sebastian ahnte, dass die veränderten Umstände auch seinen Lebensweg verändern würden.
Wilhelm schnalzte mit der Zunge, und die beiden Schimmel fielen in einen munteren Trab. Sie fuhren über die Brücke aus Lindow heraus und nahmen die lange Lindenallee nach Schönberg. Der Bauernhof der Lorenz’ lag am Ende des Ortes. Neben der riesigen Scheune und den Viehställen nahm sich das Wohnhaus fast wie eine Puppenstube aus. Es war mit Efeu bewachsen und machte zur Straße hin nicht viel her. Das Wertvolle an dem Hof waren die große Scheune, die imposanten Stallungen aus rotem Backstein und der Acker dahinter, der bis zum Horizont, bis zum Wald nach Herzberg reichte. Es war gutes Land, sofern man in Brandenburg – in des Heiligen Römischen Reiches Streusandbüchse, wie es im Reich hieß – überhaupt von gutem Ackerland sprechen konnte. Ohne die Leidenschaft des Vaters für die Pferde hätten die Lorenz’ ein sicheres Auskommen gehabt.
Als sie in den Hof fuhren, sah Sebastian bereits das halbe Dorf versammelt. Mit betroffenen Gesichtern standen sie ratlos und verloren wirkend vor dem Haus und steckten die Köpfe zusammen. Alle fragten sich, was nun aus dem Dorf werden sollte, denn der alte Lorenz hatte ihm Richtung und Haltung gegeben und war ein geachteter Mann gewesen, der für sie in der Kreisverwaltung so manches erreicht hatte.
An der Tür nahm ihn Lehrer Thyssen in Empfang, der mit dem Vater und dem Nachbarn Garchke und zuletzt auch mit Wilfried jeden Samstagabend einen gepflegten Skat gespielt hatte. Er war Sebastians Lehrer bis zur vierten Klasse gewesen und hatte ihn so manches Mal getröstet, wenn er vom Vater drangsaliert worden war. Sebastian liebte den kahlköpfigen Mann mit der Uhrkette vor dem mächtigen Bauch und der roten, skrofulösen Nase, die von blauen Äderchen durchzogen war. Von ihm hatte er Dumas’ Der Graf von Monte Christo und Die drei Musketiere bekommen, die ihm eine neue Welt erschlossen und ihn in seinen Tagträumen bestärkt hatten.
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