Der Schüler August Borsig, nunmehr neunzehn Jahre alt, saß mit nicht ganz zwei Dutzend Gefährten in einem Klassenzimmer, das nüchtern und sachlich war und voll preußischen Geistes. Das Bild des Königs hing an der Wand, und Friedrich Wilhelm III. blickte streng auf seine jungen Untertanen – alles begabte Handwerker. Sie kamen aus allen seinen Provinzen, Berliner gab es nur wenige. Borsig konnte sich über seine Gefühle nicht ganz klarwerden. Einerseits war er stolz darauf, dass er Schlesien in diesem illustren Kreis vertreten durfte, andererseits litt er darunter, schon wieder die Schulbank drücken zu müssen. Viel lieber hätte er draußen seine Kräfte erprobt und geholfen, etwas Bleibendes zu schaffen.
Ein Lehrer trat ein, und Borsig fand, dass der Mann jämmerlich aussah – fast sehnte er sich nach Mistek, der wenigstens von der Statur her überzeugend gewirkt hatte. Ohne sich vorzustellen, die jungen Herren willkommen zu heißen und ihnen eine erfolgreiche Zeit an dieser Schule zu wünschen, betrat der Mann das Podium, klopfte mit dem Bleistift auf die Tischplatte und musterte die Anwesenden mit einem scharfen Blick. Dann nahm er ein eng beschriebenes Blatt aus einem blauen Aktendeckel und hielt mit schnarrender Stimme eine kleine Rede.
»Ich verlese die Satzungen, das Gesetz unserer Schule. Ohne Gesetz kein Staat, keine Schule, keine Ordnung. Wir Preußen wissen, was wir dem Gesetz schulden. Der Herr Oberfinanzrath Beuth hat unser Gesetz eigenhändig entworfen.« Er setzte die Brille auf und begann, mit der Stimme eines Dompredigers zu lesen:
Für die Zöglinge des Königlichen Gewerbe-Instituts.
Es ist die Pflicht der Zöglinge des Königlichen Gewerbe-Instituts, sich der Wohltat wert zu zeigen, welche der Staat ihnen durch Aufnahme angedeihen lässt. Diese Anstalt ist nur für sehr fähige, fleißige, ordentliche und moralische Menschen bestimmt; andere werden daraus entfernt. Ihr anzugehören soll eine Auszeichnung sein. Wahrer Gewerbefleiß ist nicht ohne Tugend denkbar. Das Gewerbe-Institut kennt keine andre Strafe, als Entfernung aus der Anstalt.
Diese erfolgt zu jeder Zeit und ohne weiteres:
1. Wenn die Fortschritte eines Zöglings nicht hinreichend sind, um den folgenden Unterricht zu verstehen, oder zu gering für eine Versetzung in die obere Klasse;
2. wenn der Zögling sich nicht der größten Sittlichkeit und des größten Anstandes befleißigt;
3. wenn der Zögling den Unterricht unter dem Vorwande von Krankheit oder ohne vorgängige Einwilligung der Herren Lehrer versäumt;
4. wenn der Zögling, welcher verpflichtet ist, sich eine Viertelstunde vor dem Anfange des Unterrichts im Gewerbehause einzufinden, im Laufe eines Lehrgangs sechsmal zu spät gekommen ist, d. h. nachdem die Stunde geschlagen hat.
»Aber Sträflingskleidung bekommen wir keine?«, murmelte der Zögling, der neben Borsig platziert worden war und auf dessen Namensschild Schäschke stand.
Der Lehrer setzte seine Brille ab und musterte die Versammelten mit dem scharfen Blick eines Criminal-Commissarius, der auf der Suche nach einem Schwerverbrecher war. Das Schweigen wurde immer beklommener. Der Lehrer entschied sich aber, nichts gehört zu haben, und legte das Blatt, von dem er abgelesen hatte, bedächtig in den blauen Aktendeckel zurück.
Borsig schloss die Augen und wünschte sich auf den Dachstuhl zurück, an dem Meister Kiesewetter gerade baute. Unten stand Marie und winkte zu ihm hinauf. In der Ferne zog sich das silberne Band der Oder Richtung Ostsee.
»Der eigentliche Unterricht beginnt nachmittags zwei Uhr.« Damit schritt der Lehrer würdig zur Tür.
Die Zöglinge traten auf die Klosterstraße hinaus und genossen die Herbstsonne, die in diesem Jahr ganz besonders mild war. Es war Zufall, dass Borsig neben Schäschke geriet.
»Wenn der Lehrer das mit der Sträflingskleidung gehört hätte, wärst du gleich geflogen«, sagte Borsig.
Schäschke zuckte mit den Schultern. »Das hätte dieser Sesselfurzer nicht gewagt. Mein Vater kennt zu viele hochgestellte Persönlichkeiten.«
Der alte Schäschke war Juwelier mit einem Ladenlokal in der Nähe des Berliner Schlosses, und Schäschke junior hatte Goldschmied gelernt.
Am Nachmittag erschien Beuth persönlich im Klassenzimmer, um seine Eleven zu begrüßen. Borsig war überrascht von seiner äußeren Gestalt, denn einen Lützow’schen Offizier hätte er sich kraftvoller vorgestellt, vor allem die dünne, helle Stimme des Geheimen Oberfinanzrathes irritierte ihn. Sein altväterlich weit geschnittener blauer Überrock war schon ziemlich abgetragen, da war wohl Friedrich der Große in seinen letzten Tagen in Sanssouci das Vorbild. Hochgewachsen war er und hager, hielt sich aber trotz seiner 42 Jahre noch immer militärisch straff. Den kleinen Kopf bewegte er schnell hin und her, und seine langen Haare wehten dabei durch die Luft wie die eines Kunstmalers oder Pianisten. Mit seinem Halstuch wirkte er auf August Borsig auch eher wie ein Künstler und nicht wie ein Beamter, der für Handel und Gewerbe zuständig war. Ein guter Redner war er, jedes seiner Worte war Aufruf und Mahnung. Er fing die Zöglinge damit ein, dass er von seiner Englandreise erzählte, von der er vor wenigen Tagen zurückgekehrt war.
»Deren hochstehendes Gewerbe hat mich über alle Maßen beeindruckt. Aber was die Engländer können, das können wir auch, wenn wir mit der ganzen Kraft des alten harten Preußentums in die Zeit der Maschinen hinübergehen. Der Fleiß der Gewerbe und der Wille der Handwerker, sich in die Pflicht nehmen zu lassen und Besseres und Vollkommenes zu leisten, sind unseres Glückes Unterpfand. Sich regen bringt Segen. Für jeden Einzelnen wie für unser ganzes Land. Unsere Zukunft wird eine glänzende sein, wenn Sie, meine Herren, in Ihrem Gewerbe glänzen.«
Seine klugen Augen ruhten sekundenlang auf jedem seiner Zöglinge, und Borsig fühlte sich von diesem Blick durchbohrt und bis in die tiefsten Tiefen seiner Seele durchschaut. Schäschke sollte später sagen, Beuth habe jeden derart magisch und intensiv angeblickt, um in ihm ein inneres Feuer zu entzünden.
Doch in August Borsig war dieses Feuer nicht zu entfachen. Im Gespräch, das Beuth mit jedem der Neuen führte, gab er an, Baumeister werden zu wollen und sein Vorbild sei Schinkel. Doch das stimmte nicht. Er war kein Künstler.
Der Herbst ging in den Winter über, die Tage in der Klosterstraße wurden immer trüber, und Borsig litt unter allem. Morgens musste er, wie die Witwe Järschersky es ausdrückte, schon vor dem Wachwerden aufstehen, und oft hetzte er ohne Frühstück durch die dunklen Gassen zum Gewerbehaus. Am schlimmsten war es, wenn von der nahen Spree her die nasskalten Nebelschwaden durch die Straßen zogen. Die Angst, zu spät zu kommen, und der harte preußische Stil nahmen ihm jede Freude am Leben. Beim Einbiegen in die Klosterstraße hörte er das helle, blecherne Gebimmel der Schulglocke. Er war nie ein guter Läufer gewesen und wog auch zu viel, jetzt musste er das Letzte aus seinem Körper herausholen. Atemlos kam er oben an, eine halbe Minute zu spät. Der Lehrer Gänsicke begrüßte ihn wortlos mit einem Blick, der seine ganze Missbilligung zum Ausdruck brachte, griff nach seiner Liste und machte hinter dem Namen Borsig ein Kreuz. Das dritte schon. Beim sechsten flog man von der Gewerbeschule. Als ersten Zögling hatte es gestern den Mechaniker Buttgereit aus Königsberg erwischt.
In der ersten Stunde hatten sie Chemie, und Gänsicke zögerte keinen Augenblick, sich die Zuspätkommer vorzuknöpfen.
»Borsig, sagen Sie uns doch einmal, was Sie über die Theorie der Oxidation wissen, wie sie von de Lavoisier aufgestellt worden ist.«
»Ja, also …« Nichts wusste er von ihr, denn als sie gestern davon gesprochen hatten, war er mit seinen Gedanken dabei gewesen, eine riesige Kuppel für Schinkels neues Museum zu entwerfen.
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