»Ja, so in etwa«, brummte Borsig und wurde bitter. »Aber was habe ich denn von der langen Quälerei bei Hirt und Bach? Dieses Zeugnis hier ist doch zu nichts nütze, damit kann ich mir doch den Hintern abwischen!«
Friedrich Hermes suchte, ihn zu beruhigen. »Gott, August, du hast doch in den drei Jahren unheimlich viel gelernt. Das ist doch ein Kapital, mit dem du später einmal wuchern kannst.«
»Ja, ich habe den Kopf voller Wissen und Ideen, aber es ist niemand da, der das alles haben will!«, rief Borsig.
»Sei doch nicht so ungeduldig, du musst nur warten können.«
Am Abend wurde Borsig von Caspar Kiesewetter zu einem Gespräch unter vier Augen gebeten. Er bekam weiche Knie und zitterte am ganzen Körper, denn er erwartete nichts anderes, als dass der Meister ihn bitten würde, förmlich um die Hand seiner Tochter anzuhalten. Aber es sollte ganz anders kommen.
»Borsig, ich kann und ich darf Sie nicht mit Gewalt halten, wenn ich es auch äußerst gern täte. Aber Sie wollen in die Welt, und Sie müssen in die Welt!« Damit bekam er ein Blatt Papier in die Hand gedrückt.
Hierdurch bestätige ich, dass Johann Friedrich Borsig bei mir in Arbeit gestanden und auf sein Ansuchen, weil derselbe, um seine Kenntnisse zu vermehren, reisen will, hiermit entlassen wird. Sein Fleiß und seine Aufführung waren stets so, dass ich ihn jedem meiner Mitmeister empfehlen kann.
»Nicht einmal meinen eigentlichen Vornamen hat er auf diesen Wisch geschrieben«, sagte Borsig später zu seinem Freund Hermes. »Das Ganze hat er doch nur in Szene gesetzt, um mich von seiner Tochter abzutrennen. Marie soll sicher einen reichen Laffen heiraten.«
Friedrich Hermes nickte. »Kann schon sein. Möglich ist aber auch, dass dein Vater dahintersteckt und mit Kiesewetter gesprochen hat, denn es stört ihn mächtig, dass du nicht auf die Walz gehen willst, wie es sich für einen echten Zimmermann gehört.«
»Ich will aber kein echter Zimmermann mehr sein!«, rief Borsig.
Der Hofrath Professor Bach saß am Schreibtisch in der Provinzialregierung und starrte aus dem Fenster – als könnte ihm die matte Herbstsonne zu einer Erkenntnis helfen. Vor ihm lag ein Schreiben aus Berlin, auf das er heute endlich reagieren musste, aber bis jetzt hatte er sich noch nicht zu einer Entscheidung durchringen können. Man beschwerte sich darüber, dass Breslau noch immer keinen Zögling aus Schlesien in die neue Königliche Gewerbeschule in der Klosterstraße geschickt habe. So ginge das nicht – und wenn man den Willen des Königs weiterhin konterkariere, werde das negative Folgen für Breslau haben. Irgendeiner müsse doch auch in Schlesien zu Höherem berufen sein als zu einem schlichten Handwerksmeister. Unterschrieben war das Ganze von einem Christian Peter Wilhelm Beuth, Director der Technischen Deputation für Handel und Gewerbe.
Bach war hin- und hergerissen. Einerseits musste dem Wunsche Berlins entsprochen werden, und er gönnte ja auch jedem Schlesier den Aufstieg – ja, es war ihm eine Herzensangelegenheit, jede Begabung zu fördern –, andererseits aber wollte er verhindern, dass Schlesien austrocknete und seine Provinz mit der zweiten Wahl vorliebnehmen musste. Das war ein unlösbares Dilemma. Schließlich ließ er den Bauinspector Hirt rufen, um sich mit ihm zu beraten.
»Einen müssen wir schicken, lieber Hirt, da kommen wir nicht drum herum. Aber nehmen wir den Besten, dann berauben wir uns selbst, nehmen wir das Mittelmaß, dann blamieren wir uns.«
Hirt dachte nicht lange nach. »Es ist unsere Pflicht vor Gott und den Menschen, den Besten zu schicken, damit er sich in Berlin entwickeln und zu Preußens Größe beitragen kann.«
»Unser Bester, das ist der Borsig …«
»So ist es, Herr Hofrat. Er ist so begabt wie kein Zweiter.«
Bach sah ein, dass es keine andere Lösung gab. »Dann schicken wir einen Boten nach ihm und lassen ihn kommen.«
Eine halbe Stunde später stand August Borsig vor ihnen – und sah nicht sehr begeistert aus, als er erfahren hatte, was sie mit ihm vorhatten. Dass er wegen Marie in Breslau bleiben wollte, konnte er ihnen unmöglich verraten.
»Borsig«, rief der Hofrath, »warum zögern Sie da? Die Lebensbahn eines Handwerkers ist nichts mehr für Sie, Sie sind dafür geschaffen, sich andere Ziele zu setzen, höhere Ziele! Berlin ermöglicht es Ihnen, das Wissen zu erwerben, das Sie befähigt, Großes, Eigenartiges und Wunderbares zu schaffen!«
Seit Beginn der Demagogenverfolgung, die nach der Ermordung des Dichters August von Kotzebue – er galt als Gegner demokratischer Freiheiten – am 7. Juli 1819 eingesetzt hatte, stagnierte in Berlin das öffentliche Leben. Die wichtigste Behörde war das Polizeipräsidium. Seit den Befreiungskriegen, in denen man um die zweihunderttausend Menschen in Berlin gezählt hatte, wuchs die Bevölkerungszahl von Jahr zu Jahr, und hinter London, Paris und St. Petersburg stand die preußische Residenz in der Rangliste der europäischen Metropolen an vierter Stelle. Während im politischen Bereich die liberalen Ideen radikal unterdrückt wurden, kamen sie in der Gewerbe- und Wirtschaftspolitik voll zur Geltung. Trotz aller Unterdrückung erlebten Wissenschaft und Bildung, Kunst und Kultur eine ihrer glanzvollsten Epochen. Berlin entwickelte sich langsam zur Industriestadt. Damit wuchsen auch die sozialen Probleme, und 1820 waren vor den Stadtmauern die ersten Mietskasernen entstanden. Der Salon von Karl August und Rahel Varnhagen von Ense galt als geistiger Mittelpunkt der Stadt. Am 3. März 1821 hatte man das von Karl Friedrich Schinkel geschaffene Nationaldenkmal für die Befreiungskriege auf dem Kreuzberg enthüllt. Am 18. Juni 1821 war Carl Maria von Webers romantische Oper Der Freischütz uraufgeführt worden. Im gleichen Jahr hatte Schinkel den Neubau des Schauspielhauses am Gensdarmen-Markt vollendet, und am Oranienburger Thor konnte die Eisengießerei und Maschinenfabrik von Franz Anton Egells ihren Betrieb aufnehmen.
So war das Berlin beschaffen, in das August Borsig am 1. Oktober 1823 seinen Einzug hielt. Am Alexanderplatz stieg er aus der Postkutsche, und das lange Sitzen hatte seine Glieder so steif werden lassen, dass seine ersten Schritte auf dem harten Berliner Pflaster sehr unbeholfen wirkten und er wie ein alter Mann aussah und nicht wie ein junger Spund, der gekommen war, die Welt zu erobern.
Berlin war sicher eine ganz besondere Stadt, aber das ließ ihn nicht vor Ehrfurcht erstarren, denn schließlich kam er aus Breslau und nicht vom Dorfe. Aber die Leute waren doch irgendwie anders.
»Kannst du mir bitte mal sagen, wie ich zur Münzstraße komme?«
Der Schusterjunge, den er angesprochen hatte, grinste. »Klar kann ick det, denn wenn ick det nich könnte, wär ick ja janz schön mit’m Klammerbeutel jepudert. Det is also ’ne Beleidigung, det Se mir det nich zutrau’n.«
Borsig brauchte einen Augenblick, um mit dieser Logik zurechtzukommen. »Muss ich also in diese Richtung?« Er zeigte nach Süden.
»Nee, hier nach Westen. Erst kommt die Alexanderstraße, die ham Se direkt vor da Neese, und dann die Münzstraße.«
Borsig bedankte sich, schulterte die Kiste mit seinen Siebensachen und machte sich auf den Weg. Bald hatte er das zweistöckige Haus der Witwe Järschersky erreicht, in dem ihm die Berliner Schule ein Zimmer reserviert hatte. Der Name irritierte ihn nicht, denn in Breslau gab es viele, die ein -ky am Ende hatten: Brohasky, Ciazynsky, Damretzky, Domschikowsky, Galetschky, Labitzky, Panowsky oder Websky. Es waren eine ganze Menge -ky’s, an die er sich erinnern konnte.
Luise Järschersky ging auf die siebzig zu und kam aus der französischen Kolonie in Berlin, wie sich an ihrem Mädchennamen Grolleau leicht erkennen ließ. Geheiratet hatte sie den Holzhändler Johann Järschersky, der aus Ostpreußen nach Berlin gekommen war. Ihr Vorbild war die stadtbekannte Madame Du Titre, mit der sie auch befreundet war. Beide sprachen noch fließend französisch, liebten aber den urwüchsigen Berliner Dialekt und konnten komisch erzählen. Etwa in der Art, wie Madame Du Titre dem König nach dem Tod seiner Luise ihr Mitgefühl ausgedrückt hatte: »Ja, Majestätken, et is schlimm for Ihnen. Wer nimmt ooch jern een Witwer mit sieben Kinderkens?«
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