Beim Bäcker herrschte um diese Nachtzeit kein Andrang, sodass ich mich schnell wieder auf dem Rückweg befand. Die Tüte mit den zwei Fischbrötchen schwenkte ich gut gelaunt durch die Gegend. Auf einmal spürte ich einen scharfen Luftzug am Kopf. Meine Haare flogen in alle Richtungen. Ein eisiger Wind fuhr mir mitten ins Gesicht, welches ich mit einer Hand zu schützen versuchte.
Zu dem Brausen des Windes gesellte sich ein Zischen, untermalt von Flügelschlagen. Der Lärm schwoll stetig an. Papageien, schoss es mir durch den Kopf, und gleich darauf: Unsinn! Wenn, dann Möwen! Der noch logisch denkende Teil meines Gehirns sagte mir deutlich, dass es hier gar keine Papageien gab, doch mein Gefühl widersprach ihm völlig. Es störte sich auch nicht daran, dass die Papageien düster und grau wirkten. Inzwischen glich das Zischen einem Donnergrollen. Zudem war es stockfinster geworden, sodass ich anhalten musste, um nirgends dagegen zu laufen. Mit einem Mal verstummten die vorher beängstigend lauten Geräusche. Stattdessen legte sich ein Flüstern in meine Ohren: „Es ist kein guter Ort, nicht mehr! Kehre nicht dorthin zurück! Setze dich nicht erneut dieser Gefahr aus! Du bist dort unerwünscht! Nimm dir diesen Rat zu Herzen!“ Ich war wie gelähmt vor Schreck. Musste so viel Verwirrung an einem einzigen Tag wirklich sein? Was meinte die Stimme für einen Ort? Die Höhle? Da war nun rein gar nichts Gefährliches gewesen. Andererseits konnte ich mir auch keinen anderen Reim darauf machen …
Während mir diese Gedanken durch den Kopf rasten, löste sich die schwarze Wolke um mich herum langsam auf. Nur zögerlich setzte ich meinen Heimweg fort. Der Appetit auf die Fischbrötchen war mir jedenfalls vergangen.
Trotzdem schlang ich sie zu Hause gierig hinunter, um meinen Magen zu beruhigen. Es war beinahe Mitternacht, als ich wieder die Treppe hinaufstieg. Janis schlief offensichtlich schon, bei David brannte noch Licht. Einen Moment lang erwog ich, ihn dezent auf die Uhrzeit hinzuweisen, verwarf die Idee jedoch schnell wieder. Rein aus Provokation würde er dann gar nicht mehr ins Bett gehen.
Ganz im Gegensatz zu mir, denn meine Augen drohten bereits zuzufallen. Ich begnügte mich im Bad mit dem Nötigsten, sodass ich wenige Minuten später bereits unter meine Decke kroch. Zu meinem großen Leidwesen war zumindest meine geistige Müdigkeit mit einem Mal verflogen. Gedanken an das Erlebnis auf dem Heimweg marterten mein Gehirn, hinderten mich am Einschlafen.
Sollte ich die Drohung ernst nehmen? Ich wollte aber partout nicht auf die Höhle verzichten, schon allein wegen ihrer inspirierenden Wirkung. Auf der anderen Seite, vielleicht steckte doch etwas dahinter und es lauerten dort verborgene Gefahren?
Nur, was konnte das sein? Geister? Haha, wohl kaum. An solche Fantasiegespinste glaubte ich nicht. Wobei die schwarze Wolke mir ebenfalls sehr suspekt erschien. Hatte ich sie mir möglicherweise doch nur eingebildet? Eine blühende Fantasie hatte ich schon, aber doch nicht so stark! Dachte ich jedenfalls bisher. Wenn nun aber alles echt gewesen war, dann bedeutete das ja … weiter kam ich nicht mehr, bevor mich der Schlaf endlich übermannte.
11. 07. 2010, Xaver
Heute war ein Mädchen in der Höhle. Ich war nicht zugegen, aber Vater hat es mir erzählt, weswegen ich die Aufnahmen meiner geheimen Überwachungskameras geprüft habe. Stundenlang ist sie durch mein Reich gegeistert! Ich frage mich ernsthaft, wie sie den Eingang gefunden hat. Sie darf nicht wiederkommen!
Macht meiner Warze habe ich ihr graue Papageien geschickt, als Warnung. Vielleicht lasse ich morgen noch etwas anderes folgen, das muss ich erst sehen. Auf dem Weg nach draußen, im Tunnel, hat das Mädchen gesungen. Ein Kinderlied, herrlich schräg.
Aber ihr ist nicht der gesamte Text eingefallen. Recht seltsam erscheint mir das. Denn ein Kind ist sie wahrlich nicht mehr, warum also singt sie Kinderlieder? Wie dem auch sei, ich werde sie dank meiner Magie schon abschrecken. Dass von ihr eine Gefahr ausgeht, glaube ich nicht. Daher also nun zu dem spannenderen Thema. Heute war der 11. Juli, es war also Zeit für eine Entlassung. Haha! Ich halte mich an die Vorgaben! Gut, eigentlich wäre auch das Aufgabe meines Vaters gewesen, doch wie gehabt sprang ich notgedrungen als Vertretung für ihn ein. Natürlich gab es nur eine Person, die zu entlassen überhaupt möglich war – mein guter Bruder. Entsprechend hatte ich bereits vorgearbeitet, mit der Androhung des Ruhestandes. Ja, er war kein Minister, aber zumindest sind die Finanzen sein Steckenpferd. Und da Vater sowieso nicht mehr lange durchhält und ich mit Sicherheit kein Hoffnungsträger bin, ruhten alle Hoffnungen der Bücher (sie nämlich stellen mein Volk dar) auf ihm. Passenderweise hieß er ja auch noch Jacob. Wenn das nicht mit Jacques Necker harmoniert! Mich für meinen Teil amüsiert diese Parallele. Planmäßig überraschte ich ihn beim Mittagessen, welches er wie üblich spät einnahm. Sicher, er war dabei allein und ich musste den Gang persönlich erledigen, doch so genau nehme ich das nicht. Auch gab ich ihm keinen Brief, der seine Entlassung verkündete. Denn wie hätte ich es anders anstellen sollen, als ihn zu eliminieren, wo er doch ein Eingeweihter war? Keine Hürde, selbstverständlich nicht. Seinen Körper habe ich dezent in den Räumlichkeiten von Vater verwahrt, wo ich ihn bei der nächsten Reinigung „finden“ werde. Niemand hat etwas bemerkt, wer auch. Alles läuft nach Plan. Ah, drei Tage noch, dann ist der große Augenblick gekommen!
Um diesen würdig vorzubereiten, habe ich heute endlich den neuen Stempel angefertigt! Anstelle von „Caverna librorum“ wird von jetzt an der Schriftzug „Xaverna“ auf der ersten Seite eines jeden Buches zu finden sein. Damit werden meine Verdienste rund um die Höhle der Bücher für all meine Nachfolger in diesem Amt gut ersichtlich und stets präsent sein, was mir ein gewisses Gefühl der Zufriedenheit verschafft.
12. 07. 2010, Xaver
Ich habe das Mädchen von gestern mithilfe der Warze beobachtet. Eine Radtour mit dem kleinen Bruder, welch putzige Idee! Verständlicherweise gönnte ich ihr die Harmonie nicht, ein bisschen Spaß muss schließlich sein! Ein paar Blätter haben völlig ausgereicht, um sowohl ihr als auch dem Bruder die Fassung zu rauben. Vielleicht war die Anspielung auf die Papageien der Nacht etwas zu deutlich, aber eine Warnung zu viel ist besser als eine zu wenig. Hauptsache, sie hält sich nun von hier fern! Ich werde die Beobachtung nicht einstellen, obwohl ich nach wie vor nichts befürchte.
Doch natürlich steht es mir nicht offen, meine kostbare Zeit zu großen Teilen diesem Kind zu widmen. Nein! So viel Wichtigeres gibt es zu tun, stecke ich doch mitten in einer Revolution! Der 12. Juli war heute, ein ereignisreicher Tag in der Geschichte, so viel ist gewiss. Demnach hatte auch ich alle Hände voll zu tun, den Vorgaben gerecht zu werden. Der erste nennenswerte Schauplatz des Tages war das Palais Royal. Genügt nicht allein der Name, um die Erkenntnis zu gewinnen, dass dies gut und gern durch die Höhle symbolisiert werden kann? Nun sollte sich die Nachricht über Jacobs „Entlassung“ verbreiten, jedoch fand ich keinen Sinn darin, den Büchern davon zu berichten.
So ließ ich es denn bleiben. Ohnehin ist dies nicht möglich, denn mein Volk (die Bücher!) befand sich ja bereits in unserem Palais Royal. Wenn sie hier auch keinen Tumult veranstalten können, viele sind es allemal. Meines Erachtens deckten sie das Kontingent auch der Aufständischen in der Pariser Oper (welche hier bedauerlicherweise nicht existent ist) und in den Tuilerien ab. So weit, so gut. Das Volk gewinnt an Macht, die Soldaten sind orientierungslos oder fliehen. Gut, hier ist kein Soldat, aber es läuft doch alles auf das Gleiche hinaus. In der Realität floss Blut, ja, doch wie sollen Bücher und nicht vorhandene Soldaten bluten? Dennoch hielt ich mich an die Vorgaben und erzählte die schaurige Geschichte des Massakers. Leider habe ich trotzdem keine Deserteure zu bieten, aber derart viele Details sind ohnehin Zeitverschwendung.
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