Aber es stimmt schon, eine gewisse soziale Störung kann man ihr nicht absprechen. Das weiß sie selbst. Hat man sich aber erst einmal mit ihr angefreundet, merkt man davon fast nichts mehr.“
Was könnte das wohl für eine Störung sein? Ein Autist ist sie jedenfalls nicht. Die verhalten sich anders, glaube ich. Depressionen scheint sie auch nicht zu haben. Theoretisch könnte eventuell sogar eine Essstörung schuld sein, ich weiß es nicht, aber das würde man doch sehen! Es nützt nichts, zu spekulieren. Ich habe keinen Schimmer, woran es liegt, und ehrlicherweise muss ich wohl gestehen, dass es mich im Grunde gar nichts angeht. Obwohl ich es irgendwie als anziehend empfinde … es ist ja doch etwas Besonderes, oder nicht? An meinen Gefühlen ändert es zumindest nichts. Na gut, vielleicht verstärkt es sie sogar. Da bin ich zugegebenermaßen etwas unentschlossen.
In einer Sache jedoch bin ich mir nun ziemlich sicher, mindestens seit ich Cornelia heute vor der Schule sah: Ich fürchte, ich habe mich verliebt.
gez. Marek
Kapitel 2
Am nächsten Morgen checkte ich erst einmal meinen Kontostand, bevor ich eine E-Mail mit einer Kostenanfrage sowie dem Manuskript an „Books Selfmade“ schickte. Danach packte ich meinen Laptop inklusive Internetstick in meinen großen Tourenrucksack. Dazu steckte ich ein wenig Geld, um mir später ein Fischbrötchen kaufen zu können. Vielleicht müsste ich ja auch einen Strandkorb mieten.
Es war gerade halb neun, als ich mich auf den Weg machte. Mir blieb keine andere Wahl, als so früh zu starten, wenn bei meiner Ankunft am Strand noch nicht alles von Urlaubern überfüllt sein sollte. Obwohl mir der Waldweg prinzipiell deutlich lieber war, entschied ich mich, auf der Hauptstraße zu fahren, da dies die schnellere Strecke war. Hochmotiviert schlug ich die Haustür hinter mir zu. Mein Fahrrad lehnte noch am Gartenzaun, wo ich es gestern abgestellt hatte. Mit großen Schritten marschierte ich darauf zu – und blickte direkt in Frau Schupaniraks strahlendes Gesicht. Mein Magen verkrampfte sich. Ich hatte weder Zeit noch Lust, irgendwelche historischen Ereignisse zu diskutieren! „Morgen“, brummte ich leise, wandte mich aber sofort meinem Rad zu. „Einen wunderschönen guten Morgen, Cornelia! Ich hoffe, dein Ferienstart war äußerst gelungen!“ Jetzt nicht mehr, dachte ich, nickte jedoch. „Oh, und weißt du, heute ist der zehnte Juli, der Tag, an dem 1821 durch den Onís-Vertrag Florida an die USA überging, 1877 die preußische Nordbahn eröffnet wurde und 1941 … “
„Ja, und 1949 wurde der DFB neu gegründet und Mario Gomez hat heute ebenso Geburtstag wie Johannes Calvin und Maximilian von Baden. Ich weiß“, stoppte ich genervt ihren Redeanfall und hoffte, mich in keinem Fakt geirrt zu haben. Da ich selbst sportinteressiert war und noch dazu David als Bruder hatte, kannte ich mich auf diesem Gebiet allerdings recht gut aus, sodass zumindest diese Daten sicher stimmten. Frau Schupanirak starrte mich entgeistert an. Ich bemühte mich, wenigstens ein kleines Lächeln zustande zu bringen, scheiterte jedoch kläglich. Damit die Situation nicht noch peinlicher wurde, stieg ich nach ein paar Sekunden des Schweigens einfach auf mein Rad und fuhr davon. Auf der Straße waren trotz der frühen Stunde bereits einige Urlauber unterwegs. Die Erwachsenen trugen Handtücher, kleine Schirme und Zelte, die Kinder hielten Schaufeln, Eimerchen, Wasserbälle, Kescher und Luftmatratzen. Ich lächelte. Es war doch jedes Jahr das Gleiche. Unsere Insel war schon wirklich ein Paradies!
Nur wenige Autos bevölkerten die Straße, die mich hätten stören können. Vor dem Bäcker standen schätzungsweise 20 Menschen. Das Geschäft lief offenbar. Geschickt schlängelte ich mich an einem Lkw vorbei, bevor ich wieder auf den Vorplatz der Seebrücke abbog. Heute waren bereits einige Fahrradständer belegt, doch trotzdem hatte ich noch genügend Auswahl. Nachdem ich mein Rad angeschlossen hatte, ging ich entschlossen auf den Strand zu. Mit großen Schritten sprang ich die sandige Treppe hinunter.
Fast hatte ich es mir ja gedacht – Jördis stand natürlich mit am Bootsverleih. Ich hätte wetten können, dass sie das Geschäft eines Tages übernehmen würde! Freudestrahlend begrüßte sie mich. Sofort danach erkundigte sie sich, ob ich mich über „Books Selfmade“ informiert hatte, und war augenscheinlich zufrieden, als ich bejahte. „Sicher suchst du wieder einen Platz zum Schreiben, oder?“, sagte sie. „Ja, besonders in euren Booten bekomme ich immer so viele geniale Inspirationen“, antwortete ich mit einem Augenzwinkern. Wie üblich lag das ramponierte Ruderboot am Dünenrand und wurde nicht benötigt. Unzählige Stunden hatte ich schon darin verbracht, tief in Gedanken versunken, den Laptop oder einen Schreibblock auf dem Schoß. In aller Ruhe angelte ich die im Fußraum versteckte Decke hervor, um sie über den harten Sitzbänken auszubreiten. Ich war so ziemlich der einzige Mensch auf der ganzen Insel, der sie jemals verwendete, doch das genügte Jördis als Grund, sie nicht zu entfernen.
Wieder war ein recht warmer Tag im Kommen, sodass ich es mir ohne Jacke im Boot bequem machen konnte. Jördis wuselte gar barfuß und in kurzer Hose durch die Gegend! Lächelnd beobachtete ich die über den Buhnen kreisenden Möwen, während der Laptop startete. Obwohl es mich in den Fingern juckte, endlich mit dem Schreiben zu beginnen, schob ich zuerst meinen Internetstick in den USB-Port, um mein E-Mail-Fach zu laden. Tatsächlich fand ich darin bereits eine Antwort von „Books Selfmade“.
Mit dem eingeschickten Manuskript sollte mich ein Buch als Paperback acht Euro kosten, der empfohlene Verkaufspreis lag dann bei 9,90 Euro. Das klang erst einmal ganz verlockend. Für die Vermarktung sei ich selbst verantwortlich. Kein Problem. ISBN: 100 Euro. Hm. Lektoratskosten: 200 Euro. Nein, danke. Coverdesign entwerfen lassen: 120 Euro. Oder bitte ein eigenes einsenden. Oh, ich hatte bereits mehrere Entwürfe gezeichnet und digitalisiert!
Ich wählte die drei besten aus und zog sie in den Anhang. Dann bestellte ich kurzerhand 50 Bücher mit ISBN. Mit Verwunderung nahm ich zur Kenntnis, dass es dafür nicht einmal einer Einverständniserklärung meiner Eltern bedurfte.
Mein Herz schlug mir bis zum Hals, als ich auf den „Senden“-Button klickte. Endlich hatte ich es geschafft! Die Lust auf mein neues Projekt verstärkte sich in rasantem Tempo, stets mit dem Hintergedanken, dass auch dafür ein Druck möglich sein würde!
Innerlich jubelte ich lauthals, meine Glückshormone fuhren Achterbahn, wobei sie einen Looping nach dem anderen drehten. Schließlich konnte ich nicht mehr verhindern, dass mir ein kleiner Freudenschrei entfuhr, allerdings schien niemand ihn gehört zu haben. Vor Aufregung gesellte sich gleich noch ein Schluckauf dazu. Als nächstes durchzuckte mich ein Blitz der Erleichterung; welch großer Stein mir dabei vom Herzen fiel!
Vor lauter Glück war mein Kopf wie leergepustet. Es gelang mir mit zitternden Händen, die Word-Datei des Buchkapitels zu öffnen, an dem ich gerade schrieb. Erst kam mir keine Idee, wie mein nächster Satz aussehen sollte, doch schließlich hatte ich den richtigen Gedanken. Eifrig tippte ich los. Der Schluckauf aber ließ mich ständig abrutschen, sodass ich nach nur drei Zeilen eine Pause einlegen musste, um mich ein wenig zu beruhigen. Glücklicherweise konnte ich durch ein längeres Luftanhalten den Schluckauf in die Flucht schlagen. Am Rande nahm ich wahr, wie Jördis mir einige belustigte Blicke zuwarf. Ich versuchte mich an einem Grinsen, bevor ich mich wieder dem Text zuwandte.
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