Sie waren eineinhalb Jahre jünger als ich und obwohl sie sich äußerlich glichen wie ein Ei dem anderen, waren ihre Charaktere grundverschieden. Janis Gunar war der ruhige Typ, der Geige spielte, schwimmen ging, fleißig war und somit die besten Noten von uns dreien hatte. Er machte allgemein nie Ärger. Zu ihm hatte ich ein exzellentes Verhältnis, denn er bewunderte mich aufrichtig – wofür auch immer – und ich liebte ihn.
David Lars hingegen hatte nur Unsinn im Kopf. Für die Schule interessierte er sich keine Spur, stattdessen ging er mehrmals in der Woche zum Fußballtraining oder Skaten, saß oft bis spät in die Nacht vor seinem PC und es geschah nicht selten, dass er trotz seines zarten Alters sonntagmorgens sturzbetrunken ins Haus stolperte. Ich bezweifelte, dass er auf diese Art noch lange alles schaffen würde. Vielleicht lag das aber auch daran, dass ich mit ihm weit weniger gut auskam als mit unserem gemeinsamen Bruder. Ein Stöhnen entfuhr mir, als ich Janis allein die Straße entlanglaufen sah. Sofort hastete ich zur Tür, um ihn hineinzulassen. Am liebsten hätte ich auf der Stelle nach David gefragt, doch ich wartete damit ungeduldig, bis wir beide am Küchentisch saßen.
„David ist mit zu einem seiner Saufkumpanen gefahren, glaube ich. Angeblich wollen sie die Ferien zusammen einläuten. Ich denke eher, er hat Angst, nach Hause zu kommen. Jedenfalls hätte ich die mit seinem Zeugnis.“ Erstaunt zog ich eine Augenbraue hoch. „Saß er nicht neben einer der Besten, extra zum Abschreiben?“, hakte ich nach. „Schon.“ Janis zuckte mit den Schultern. „Aber dabei lässt er sich ja ständig erwischen. Ehrlich, bei dem hilft alles nichts. Spätestens in zwei Jahren ist Schluss mit ihm, wenn er nicht langsam anfängt, seinen Verfall zu stoppen.“ Ich nickte langsam. Das entsprach genau meinem Eindruck von David. Bevor ich aber etwas antworten konnte, sprach Janis schon weiter: „Er macht es so doch nur schlimmer. Papa wird zuerst ausrasten, weil David einfach verschwunden ist und dann nochmal, wenn er sein Zeugnis sieht.“ Ich brachte ein schiefes Grinsen zustande. „Stimmt, eigentlich hatte ich gehofft, dass ich meines nach seinem zeigen kann.“ Janis lachte und erklärte mir zum etwa fünfmillionsten Mal, dass unser Vater zwar überehrgeizig, im Grunde aber nicht verkehrt war. Zweifellos hatte er damit Recht. Und seit Janis mir Gesellschaft leistete, gelang es mir auch, die Gedanken an die 18. Absage zu verdrängen. Selbstverständlich war es Janis‘ Vorschlag, Pizza zum Abendbrot zu backen. In der Tiefkühltruhe entdeckte ich Spinat, Broccoli und Lachs, während Janis den Teig, Tomaten und Käse hervorkramte. Ich schämte mich fast dafür, den gefrorenen Lachs zu verwenden, wo ich doch nur kurz mein Fahrrad hätte bemühen müssen, um frischen Fisch zu besorgen. Dennoch, als unsere Eltern nach Hause kamen, standen fünf dampfende Pizzen auf dem gedeckten Küchentisch. Mum umarmte uns beide, Dad reckte immerhin den Daumen nach oben. Sofort danach erkundigte er sich nach David, worauf er die gleiche Antwort erhielt wie ich auch. Ich konnte ihm ansehen, wie er seine Wut unterdrückte, während er Davids Pizza wieder in den Ofen schob, um sie warm zu halten.
Bevor er jedoch zu essen begann, verlangte er nach unseren Zeugnissen. Zuerst betrachtete er Janis‘, mit dem er offensichtlich zufrieden war, dann begutachtete er das meinige, welches ihm nicht ganz so zusagte: „Wie ist dein Durchschnitt?“, rief er entsetzt.
Ich starrte ihn entnervt an, erwiderte aber trotzig: „Die Dreien sind doch eh nur in den unwichtigen Fächern: Geschichte, Musik, Religion … “ „Kein Fach ist unwichtig!“, unterbrach Dad mich unwirsch. „Durchschnitt?“ „Weiß ich nicht … zwei Komma drei oder so.“
Dad presste rot anlaufend die Lippen aufeinander, als er sich der Beurteilung zuwandte: „Cornelia ist eine ruhige Schülerin, die über ein gut ausgeprägtes logisches Denkvermögen verfügt, was ihr speziell in den Naturwissenschaften gute und sehr gute Leistungen einbringt. Doch häufig ist Cornelia unkonzentriert und bereitet sich nicht intensiv genug auf den Unterricht vor. Des Weiteren gelingt es ihr kaum, soziale Anbindung in der Klasse zu finden.“ Natürlich war mir klar, dass diese Einschätzung nicht gerade glänzend war, aber ich musste auch zugeben, dass sie genau ins Schwarze traf. Dennoch: Meine Eltern wussten genauso gut wie ich, woraus sämtliche Kritikpunkte resultierten. Anscheinend begriff Dad einfach nicht, dass sich eine Hochbegabung nicht mal eben abstellen ließ. Weder Janis noch David waren hochbegabt, in meiner Familie litt nur ich darunter. Dabei hatte ich sogar Freunde gefunden, doch sie waren allesamt älter als ich und gingen somit nicht in meine Klasse. Ich bemühte mich ständig, trotz meines hohen IQs relativ normal zu wirken. Leider gelang mir das oft nicht. Nachdem Dad sich wieder beruhigt hatte, Mum hatte etwas nachgeholfen, machten wir uns hungrig über die Pizzen her. Garantiert hätten wir eine äußerst harmonische Mahlzeit verlebt, wäre nicht in diesem Moment David durch die Küchentür gestürzt.
Dad sprang sofort auf, um sich vor seinem Sohn aufzubauen. „Wo warst du?“, schrie er ihn an. Ein Grinsen umspielte Davids Lippen. „Schuljahresausklangparty bei Maik“, sagte er. Es war ihm sowohl anzusehen als auch anzuhören, dass auf der Party nicht zu wenig Alkohol geflossen war. Daher hatte sich auch Mum erhoben: „David, du hast getrunken! Schon wieder! Wann wirst du es endlich lassen?“ „Nie“, erwiderte David. Noch immer grinsend holte er seine Pizza aus dem Ofen und setzte sich zu uns an den Tisch. In Dads Stimme schwang ein bedrohlicher Unterton mit, als er forderte: „Zeig mir dein Zeugnis, David!“ „Das liegt noch bei Maik!“ Dad stand wortlos auf, ergriff Davids Ranzen und begann nach dem gewünschten Dokument zu suchen. Als er es endlich vor sich hatte, weiteten sich seine Augen merklich. David ignorierte ihn. Kopfschüttelnd reichte Dad das Zeugnis an Mum weiter. Ich wusste, gleich würde wieder die ewige Diskussion über Nachhilfe anfangen, deshalb stopfte ich mir hastig das letzte Stück Pizza in den Mund. „Ich geh nochmal zum Strand“, schmatzte ich, bevor ich die Küche verließ. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend sprang ich die Treppe hinauf. Aus meinem Kleiderschrank angelte ich ein altes T-Shirt, das von Dad stammte und mir viel zu groß war, sowie eine kurze Sporthose. Rasch schlüpfte ich in die Sachen, trampelte die Treppe wieder hinunter und schnappte den Schlüssel für mein Fahrradschloss. Bevor ich losradelte, schickte ich noch eine SMS an Jördis. Garantiert würde sie auch ans Wasser kommen, wenn ich dort war. Dann schwang ich mich auf mein Rad und sauste von dannen. Schneller als gewöhnlich strampelte ich die Siemensstraße in Richtung Wald entlang. Hinter den ersten Bäumen bog ich scharf links ab und holte Schwung, um den ersten Berg zu bewältigen. Ich war ziemlich außer Atem, als ich den Platz vor der Seebrücke erreichte. Wie erwartet waren noch genügend Fahrradständer frei. Nachdem ich mein Rad angeschlossen hatte, schlenderte ich gelassen über den Platz.
Sowohl der Waffelstand als auch der Backfisch King waren noch geöffnet, ebenso konnte man noch in den Salzhütten speisen, jedoch keine Fischbrötchen mehr mitnehmen. An der Seebrücke hielt ich kurz an, schwankte, wohin ich mich wenden sollte. Schließlich entschied ich mich für die Brücke.
Zum Glück war es ziemlich warm für einen Abend Anfang Juli. Außerdem war ich den Wind gewohnt, der mir in die Kleider fuhr und meine Haare zerzauste. Das Rauschen der Wellen zauberte mir ein Lächeln aufs Gesicht. Beschwingt gelangte ich ans Ende der Seebrücke. Ich stützte beide Arme auf das Geländer und schaute auf die Wellen, die unter mir schäumend brachen und gegen die Stützpfeiler krachten. Im Nachhinein konnte ich nicht mehr sagen, wie lange ich so dagestanden und versonnen auf das Wasser geblickt hatte, aber es waren gewiss einige Minuten verstrichen. Plötzlich spürte ich zwei Hände auf meinen Schultern. Erschrocken fuhr ich aus meiner Trance, drehte mich um. Unauffällig hatte Jördis sich von hinten herangeschlichen.
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