Für alle mutigen Kinder,
die nie aufhören,
die verschwundenen Dinge und Leute zu suchen.
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INHALT |
Erstes Kapitel |
Zweites Kapitel |
Drittes Kapitel |
Viertes Kapitel |
Fünftes Kapitel |
Sechstes Kapitel |
Siebtes Kapitel |
Achtes Kapitel |
Neuntes Kapitel |
Zehntes Kapitel |
Elftes Kapitel |
Zwölftes Kapitel |
Dreizehntes Kapitel |
Vierzehntes Kapitel |
Fünfzehntes Kapitel |
Sechzehntes Kapitel |
Siebzehntes Kapitel |
Letztes Kapitel |
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ERSTES KAPITEL, |
in dem Pablo eine Botschaft erhält und der Fluss noch schläft |
Die Villa war marode. Sagten die Leute.
Das bedeutete: Kaputt. Hinüber. Einsturzgefährdet.
Sie stand zwischen anderen weniger kaputten und bunt angestrichenen Häusern – hellblau, gelb, lila, aber die Villa selbst hatte keine Farbe. Und aus den Ritzen wuchsen Bäume, kleine und große: auf dem Dach, den Balkons, aus den Fenstern. Schlingpflanzen umrankten die alten Mauern, Gras bedeckte die Eingangsstufen, kleine lila Blüten regneten durch die Fenster.
Pedro liebte die Villa.
Sie war sein Zuhause.
Bei gutem Wetter schlief er oben auf dem Dach, auf einem kleinen Türmchen. Bei Regen kletterte er durch ein Loch in den Raum darunter. Von dort aus sah man die ganze Stadt, die bunte, laute, chaotische Stadt – und dahinter den Urwald, in der Ferne, grün, unendlich.
Es war der Urwald, der die Villa zurückerobert hatte. Es geschah überall dort, wo etwas von den Menschen verlassen wurde: Die Pflanzen, die vor Jahrtausenden hier gestanden hatten, kamen einfach zurück. Das gefiel Pablo.
Die Villa war wie ein Stück von dem Grün da draußen, ein Stück Wildheit.
Pablo war noch nie dort gewesen.
Im wahren Urwald.
»Eines Tages«, sagte er zu sich selbst, »eines Tages lerne ich ihn kennen. Irgendwo da draußen wartet das Abenteuer.«
Es war ein Dienstag, an dem er das sagte, und er saß auf dem Turm und ließ die Beine baumeln.
Dann nahm er die Spiegelscherbe in die Hand, die neben ihm lag, und wischte sie an seinem schmutzigen T-Shirt ab. Ein Junge von etwa zehn Jahren blickte ihn an, mit wachen dunklen Augen und zimtfarbener Haut, auf der Nase eine lange Schramme, das Gesicht im Allgemeinen nicht unbedingt sauber. Auf dem drahtigen schwarzen Haar saß schräg eine alte schwarze Schiebermütze und unten sah man gerade noch den ausgefransten Ausschnitt des gelbgrünen Fußball-T-Shirts, das bessere Tage gesehen hatte.
Alles in allem, fand Pablo, sah er aus wie ein echter Abenteurer.
»Blöd«, sagte er zu seinem Spiegelbild, »dass ich nie ein Abenteuer erlebe. Ich meine, so abenteuerlich ist es nicht, auf der Straße Leute anzubetteln oder ihnen für Geld Einkäufe nach Hause zu tragen. Es wäre besser, ein reicher Adeliger zu sein. Auf einem Pferd mit Silbersporen. Oder auf einem Dreimaster, an dessen Reling man stolz stehen und fremden Ländern entgegensehen kann. Oder mit dem Degen in der Hand die Schlangen im Urwald zu bekämpfen. Oder …«
Er hielt inne und beugte sich weiter vor.
Da war etwas gewesen, eine Bewegung unten zwischen den Büschen vor der Villa. Ein Schatten …
»Miguel?«, rief Pablo leise. Denn es war Miguel, auf den er da oben auf seinem Turm wartete.
Miguel kam jeden Freitag vorbei, setzte sich zu ihm auf die Stufen vor der Villa und unterhielt sich mit ihm. Meistens brachte er Pablo ein Sandwich oder einen gegrillten Maiskolben mit. Aber am letzten Freitag war er nicht gekommen, was Pablo gewundert hatte.
Miguel war Student.
Er trug eine Brille mit kleinen runden Gläsern und lustigem rotem Rahmen und er hatte so große Träume wie Pablo. Oft saßen sie freitags zusammen auf den Stufen der Villa und träumten: von Abenteuern, von den Meeren und den Sternen und dem grünen Geheimnis des Waldes rund um Manaus, ihre Stadt.
An diesem Tag ahnte Pablo noch nicht, wie bald er den Wald besser kennenlernen würde. Wie bald er in ein Abenteuer hineinrutschen würde. Allerdings ohne Degen und Silbersporen.
»Miguel, bist du das?«, rief Pablo. Niemand antwortete.
Unten in der Villa klirrte etwas. Glas. Eine Scheibe.
Das war seltsam. Pablo begann, außen am Turm an einer Kletterpflanze herunterzuklettern, denn die Treppe unten war seit Langem nicht mehr begehbar.
Unten sprang er ins Gras und zog sein altes Taschenmesser heraus und so schlich er vorwärts, dorthin, woher das Klirren gekommen war.
Denn leider besaß er keinen Degen.
Er besaß eine bunte gewebte Umhängetasche, drei Unterhosen mit Löchern, das Messer, eine durchgelegene Matratze und eine kleine Bibel, die ihm ein netter Priester einmal geschenkt hatte und die er verwendete, um Kerzen darauf festzukleben.
Es klirrte wieder unten in der Villa. Pablo mochte die unteren Räume nicht so sehr, sie waren zu dunkel und zu groß und die Leute warfen Müll hinein, den er lieber den Ratten und Katzen überließ.
»Miguel, bist du das? Spielst du Verstecken mit mir? Komm raus da«, sagte Pablo. »Wir können uns auf die Stufen setzen wie immer. Hast du was zu essen dabei? Wie … wie waren die letzten Prüfungen …?«
Noch ein Rascheln in der Villa. Und dann ein seltsames Geräusch, kläglich, leise – ein Weinen.
Die Tür hinter den Stufen war mit Holzbrettern zugenagelt. Pablo holte tief Luft und kletterte durch das nächste Fenster. Drinnen landete er zwischen Plastiktüten, alten Blättern und Saftkartons und auf einmal war alles dunkel. Die bunt angemalte, laute, verrückte Stadt blieb hinter ihm zurück. Hier war alles gedämpft und schattig.
Pablo rückte seine Kappe zurecht.
»Wer immer du bist, ich komme jetzt«, sagte er, ein leichtes Zittern in der Stimme. »Hab keine Angst.«
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